Gab es wirklich überproportional viele österreichische NS-Täter? Ein Bericht im STANDARD über Kurt Bauers Studie irritierte die Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider und ihren Kollegen von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz Winfried R. Garscha (siehe "Seltsame Vergleiche zur NS-Täterschaft"). Im Gastkommentar äußert sich nun der Studienautor.

"Cui bono?", haben sich Leserinnen und Leser von Klaus Taschwers ausgezeichnetem Beitrag über die Ergebnisse meines Forschungsprojekts angeblich gefragt. – Wem es nützt? Mit Verlaub, der historischen Erkenntnis, meine ich.

Wenn von namhaften, etablierten Historikern verbreitet wurde und wird, dass 40 Prozent bis "etwa die Hälfte" des Personals von nationalsozialistischen Vernichtungslagern beziehungsweise Konzentrationslagern beziehungsweise "Todeslagern" beziehungsweise "der am Massenmord beteiligten Schergen" beziehungsweise "der Täter insgesamt" Österreicher gewesen sein sollen, und zwar ohne irgendeinen Verweis auf entsprechende empirische Erhebungen, so wird die Wissenschaft, als die sich die Historiografie alles in allem ja doch versteht, danach fragen dürfen – nein, müssen –, ob diese gewaltigen Größenordnungen eigentlich stimmen.

Ist es wirklich "seltsam" zu hinterfragen, ob ein Geschichtsbild, das sich seit den 1970er-Jahren etabliert und verfestigt hat – dass nämlich Österreicher weit über ihrem Bevölkerungsanteil an Nazi-Verbrechen beteiligt gewesen wären –, überhaupt der Realität entspricht?

Tief verstrickt

Tatsächlich ergeben statistische Auswertungen unterschiedlicher Tätergruppen und Tatkomplexe ein ganz anderes, differenziertes Bild: Österreicher waren tief in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickt. Aber sie waren nicht häufiger daran beteiligt, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Von der in der Historiografie eisern behaupteten starken Überrepräsentation kann keine Rede sein. Zu entschuldigen oder zu relativieren an dem, was geschehen ist, gibt es deshalb freilich nichts. Das war auch nie die Intention dieses Forschungsprojekts. Ich kann es nicht oft genug wiederholen.

Wem nützt es eigentlich, wenn unbelegte Behauptungen über einen ungeheuren Anteil von Österreichern an NS-Verbrechen verbreitet werden? In letzter Konsequenz leistet man damit doch nur Rechtsextremen, Neonazis und Geschichtsrevisionisten Vorschub, denen die absurd überzogene österreichische Täterthese willkommenes Argumentationsmaterial liefert.

Rhetorische Übertreibung

Ein Wort noch zu Simon Wiesenthal. Im Oktober 1966 sandte er ein umfangreiches Memorandum an die österreichische Bundesregierung. Betreff: "Schuld und Sühne der NS-Täter aus Österreich". Darin schrieb er unter anderem, dass der Prozentsatz der österreichischen NS-Täter deutlich höher als der Bevölkerungsanteil der "Ostmark" am "Großdeutschen Reich" gewesen sei. Diese Behauptungen, die er in späteren Jahren regelmäßig in Interviews, bei Vorträgen und in Publikationen wiederholte, wurden zum Ausgangspunkt des Entstehens dessen, was man – durchaus in gutgemeinter Absicht, nämlich in Abwehr der verlogenen Opferthese – als österreichische Täterthese bezeichnen könnte.

Waren überproportional viele NS-Täter Österreicher? Für das KZ Mauthausen trifft das zu, wie eine Studie nun ergab.
Foto: APA/Werner Kerschbaummayr

Wiesenthal verfolgte mit seinem Memorandum allerdings einen ganz anderen Zweck, nämlich seiner mehr als berechtigten Forderung, die justizielle Verfolgung von NS-Tätern zu intensivieren, den nötigen Nachdruck zu verleihen. Wie aus Tom Segevs Biografie hervorgeht, scheute Wiesenthal in seinem Kampf um Gerechtigkeit für die Opfer des Nationalsozialismus auch bei anderen Gelegenheiten nicht vor rhetorischen Übertreibungen zurück, wenn sie nur seiner mit aller Leidenschaft betriebenen gerechten Sache dienten.

Sachlicher Blick

Den Ausführungen von Kuretsidis-Haider und Garscha über die Problematik der gerichtlichen Verfahren gegen NS-Täter habe ich nichts hinzuzufügen oder entgegenzuhalten. Mag sein, dass die Leiterin einer Berliner Gedenkstätte vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz nicht Kenntnis genommen hat. Ich schätze diese Einrichtungen, habe für meine Studie sehr von ihrer Arbeit profitiert und – keine Sorge – alles durch korrekte Zitate belegt.

77 Jahre nach Untergang des Nationalsozialismus und nach Jahrzehnten emotional geführter Deutungskämpfe plädiere ich für eine Normalisierung und Historisierung unseres Blicks auf den Nationalsozialismus. Weder Opfer- noch Täterthese sind gerechtfertigt. Beides waren Ausformungen ihrer Zeit. Einer Zeit, die vergangen ist. (Kurt Bauer, 11.2.2022)