Im einstigen Kino des Gemeindebaus Rabenhof in Wien-Landstraße ist heute das gleichnamige Theater daheim. Thomas Gratzer leitet es seit 19 Jahren. Pandemie? Für ihn kein Grund zum Sudern.

STANDARD: Still alive?

Gratzer: Na sicher, immer. Wir geben nicht auf.

STANDARD: Wie schlimm sind die Pandemiefolgen für Ihr Haus mit seinen 291 Plätzen?

Pandemie hin oder her, Thomas Gratzer hat nicht viel zu sudern, wie er sagt.
Foto: Regine Hendrich

Gratzer: Ich hab nicht viel zu sudern. Wir hatten zwar vor der Pandemie einen Eigendeckungsgrad von 60 Prozent durch unsere Karteneinnahmen, den Rest zahlt die öffentliche Hand, seit 2021 bekommen wir aber 1,1 Millionen Euro im Jahr an Subvention von der Stadt Wien, davor waren es 900.000 Euro. Das schwächt natürlich den Einnahmenverlust ab. 2019 hatten wir fast 93 Prozent Auslastung – wann wir dort wieder hinkommen, das weiß ich nicht. Ich bin aber zuversichtlich. Im Vorjahr hatten wir nur 63 Prozent Auslastung.

STANDARD: Sie sind also relativ gut durch die Krise gekommen? Hört man selten.

Gratzer: Es ist schon auch grauenhaft, aber ich bin auch sehr stolz auf uns. Wir haben relativ bald erkannt, dass die laufende Saison eine unglaubliche Wackelpartie wird, weil es immer wieder zu Ausfällen von Schauspielerinnen und Schauspielern kommt. Im Gegensatz zu großen Häusern haben wir den Vorteil, dass wir mit wenig Leuten auf der Bühne arbeiten. Wenn es einmal fünf oder sechs sind, ist das schon eine große Neuproduktion in unserem Kosmos hier. Von denen haben wir nur die zur Aufführung gebracht, die wir schon um ein Jahr verschoben hatten. Stücke mit mehr als zwei Leuten auf der Bühne finden sonst fast nicht statt. Wir mussten nur einen einzigen Abend absagen.

STANDARD: Im vorigen Herbst, als das Land erneut zugesperrt wurde, klangen Sie nicht so positiv.

Gratzer: Ja, im Herbst hab ich die totale Panik bekommen. Denn die Kollegen, die ihre Häuser schon aufgemacht hatten, waren verzweifelt und erzählten nur, wie schlecht es läuft – und dann war der September bei uns zwar oasch, aber net so oasch. In einer Vorstellung waren zwar nur 70 Zuschauer, also knapp, aber in allen anderen zwischen 100 und 150. Der Oktober war sogar sehr, sehr gut, da waren wir öfter ausverkauft.

STANDARD: Weil die Leute endlich wieder raus und wieder lachen wollten?

Gratzer: Sie wollten nicht nur lachen. Wir waren sogar bei der "Rozznjagd" von Peter Turrini voll und: Standing Ovations. Aber dann wurde eh wieder zugesperrt.

STANDARD: Welche Hilfen haben Sie bekommen?

Gratzer: Unsere Mitarbeiter waren von März 2020 bis Juni 2021 in Kurzarbeit, und im November 2020 bekamen wir 80 Prozent Umsatzersatz und im Dezember 50 Prozent. Bei uns sind die Hilfen angekommen.

Die Theaterwelt litt massiv unter den Schließungen, viele Künstlerinnen und Künstler landeten im Prekariat. Im Rabenhof, sagt dessen Chef Gratzer, seien die Hilfen angekommen.
Foto: APA/dpa/Kalaene

STANDARD: Aber einzelne Künstler sind halb verhungert …

Gratzer: Mit den Hilfen sollten sie es geschafft haben – wobei vor allem Gutverdienende und der Mittelbau durchs Netz der Hilfen gefallen sein dürften, wie ich gehört habe.

STANDARD: Viele Künstler müssen ja seit jeher prekär leben.

Gratzer: Ja, das war immer so. Und Sie dürfen nicht vergessen, wir hier und die Künstler, die im Rabenhof auftreten, sind relativ privilegiert und verdienen ganz okay.

STANDARD: Der Rabenhof wird vom Verein Kitsch & Kontor betrieben, dessen Obmann Sie sind. Wie stehen Sie jetzt wirtschaftlich da?

Gratzer: Sehr gut – trotz Pandemie schreiben wir eine dicke fette Null. Natürlich auch dank Kurzarbeit und Subventionen.

STANDARD: Haben Sie auf Subventionen vorgegriffen? Wäre ja erlaubt.

Gratzer: Nein, das mussten wir nicht, und wir haben auch niemanden gekündigt, auch nicht die geringfügig Beschäftigten, die etwa an der Garderobe stehen. Anderswo waren sie die Ersten, die rausgeflogen sind. Und wir konnten für viele Künstlerinnen und Künstler Ausfallshonorare organisieren. Wir haben die Krise so seriös wie möglich bewältigt.

STANDARD: Sind die Kulturbetriebe und Künstler besonders strapazierfähig? Oder ist ihr Publikum so treu?

Gratzer: Beides. Kulturpublikum ist extrem vorsichtig und besonders verantwortungsvoll, von unseren Zuschauern sind fast alle geimpft. Und das Publikum ist treu – wie treu es wirklich ist, das werden wir aber erst in zwei, drei, vier Jahren sehen.

STANDARD: Wenn man weiß, ob man alle Zuschauer von früher wieder zurück in die Theater bekommt?

Gratzer: Ja. In den vergangenen Jahrzehnten ist das Publikum nirgends mehr geworden, jedes Haus muss um Zuschauer kämpfen. In den großen Häusern wurden viele Abos zurückgegeben, die Zuschauer entscheiden spontaner.

STANDARD: Sind Kulturkonsumenten treu, weil es um ihr Vergnügen geht?

Gratzer: Das weiß ich nicht. Aus Deutschland höre ich, dass die Intendanten für die nächsten Jahre verstärkt auf Musikalisches und Lustiges setzen. Verständlich: Die sagen, die Leute waren in den vergangenen zwei Jahren extrem, extrem belastet, die wollen jetzt Unterhaltung. Wobei ich die vieldiskutierte Spaltung der Gesellschaft gar nicht so sehe: Natürlich gibt es einen "Riss" in der Gesellschaft wegen der sogenannten Maßnahmenkritiker, aber die sind ja wenige – und dieser Riss wird sich wieder schließen. Ob er verheilt, das ist eine andere Frage.

STANDARD: Wir leben halt mit einer weiteren Minderheit?

Gratzer: So könnte man das sagen.

STANDARD: Werden die Kulturbetriebe nach der Pandemie dann weniger anspruchsvolles Programm bieten?

Gratzer: Vielleicht. Wenngleich Unterhaltung nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit weniger Anspruch. Aber so wie in den 1920er- und 1930er-Jahren, nach Großem Krieg und Spanischer Grippe: Da ging's drum, alles vergessen zu machen, und um Entertainment, Entertainment, Entertainment.

Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler (ÖVP) von 2000 bis 2007, wirkte auch im Rabenhof – als Puppe in der Politsatire "Bei Schüssel".
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Kabarett gibt es ja bei Ihnen auch viel, politisches halt …

Gratzer: Politsatire ist bei uns ein wichtiges Standbein, man erinnere sich an die Puppenshows "Bei Faymann" oder "Bei Schüssel"…

STANDARD: Herrlich, der Wein lagerte bei Schüssel am Klo, und Andreas Khol trank ihn …

Gratzer: Das soll aber stimmen, das mit dem Weinregal am Klo.

STANDARD: Kommt bald "Bei Basti"?

Gratzer: Ich bekomme derzeit das Team, das die Puppenshows gemacht hat, nicht zusammen, was mir wahnsinnig leidtut.

STANDARD: Hotel- und Tourismusbetriebe liegen der Regierung offenbar am meisten am Herzen, nach ihnen richtete sie sich beim Auf-und Zusperren, Stichwort Skifahren. Der Rabenhof hat sich im Lockdown-Winter 2020 zum Skiresort erklärt, Sie sind mit Ski angetreten. Weil sich die Kultur benachteiligt fühlt?

Gratzer: Damals mussten wir wirklich einmal aufzeigen, deswegen unsere politisch-satirische Aktion. Jetzt nennen wir uns übrigens Kurbetrieb.

STANDARD: Wieso zählen Kunst und Kultur im Kulturland Österreich weniger als Seilbahnbetriebe?

Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP, Mitte), die Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer, Martha Schultz, und Franz Hörl, Nationalratsabgeordneter (ÖVP). Er ist auch im Flachland bekannt durch seinen Einsatz für die Seilbahnwirtschaft, deren Obmann er auch ist.
Foto: Paul Gruber

Gratzer: Die Tourismuswirtschaft hat halt eine Lobby, die Kulturbranche nicht. Die Bedeutung von Kunst und Kultur wird nach wie vor verkannt – wobei, das muss man jetzt sagen, wertfrei: In Niederösterreich hat das Erwin Pröll vor sehr, sehr langer Zeit schon erkannt und viel für die Kultur getan.

STANDARD: Dafür hat er in Niederösterreich aber auch das Geld abgeschafft.

Gratzer: Ja, aber das Geld ist durchaus auch in der Pandemie für bestimmte Bereiche abgeschafft worden. Bei den Salzburger Festspielen hat man die Bedeutung der Kultur begriffen, aber da geht es halt um Hoch-Hoch-Hoch-Hoch-Hochkultur. Da kommen die finanzstärksten Touristen, die es überhaupt gibt, und es geht um die Supermarie und Umwegrentabilität. Sonst wird der Mehrwert der Kulturwirtschaft aber ignoriert. Wir sind eine Nation, die das Kulturfähnchen gern rausstreckt, wenn es darum geht, sich Touristen für Großveranstaltungen zu krallen – aber in Wirklichkeit ist den Regierenden die Kultur völlig egal. Anders ist das eben nur in Salzburg und in Wien.

STANDARD: Warum, glauben Sie, dass das in Wien anders ist?

Gratzer: Weil es vom Bürgermeister abwärts ein Verständnis für Kunst und Kultur gibt, beides gehört zur Stadt seit jeher dazu.

STANDARD: Man könnte sagen: Das behaupten Sie, weil Sie Ihre Subventionen von der Stadt Wien bekommen.

Gratzer: Klar, könnte man sagen.

STANDARD: Regierungsmitglieder scheinen selten ins Theater zu gehen. Kommen sie zu Ihnen?

Gratzer: Na ja, Bürgermeister Ludwig sieht man auf Burgtheater-Premieren, zu uns kommt er auch manchmal. Andreas Khol von der ÖVP war legendär fürs Einschlafen in Burg-Premieren, Schüssel hat Cello gespielt und Cartoons gezeichnet. Dann ist der Faden gerissen, die türkise Kurz-Truppe hatte null Anbindung an die Kultur, das waren nur machtgierige Emporkömmlinge.

Thomas Gratzer: "Wir sind eine Nation, die das Kulturfähnchen gern rausstreckt, wenn es darum geht, sich Touristen für Großveranstaltungen zu krallen – aber in Wirklichkeit ist den Regierenden die Kultur völlig egal."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Apropos. Sie haben türkise Pythonleder-Stiefeletten?

Gratzer: Hab ich bei einer Steirerin in New York gekauft. Sie sind leiwand und geil, aber sie sind türkisgrün, bitte. Nicht, dass Sie glauben ...

STANDARD: Sie vergaßen zu erwähnen, dass Ex-Finanzministerin Maria Fekter manchmal da war ...

Gratzer: Stimmt, sie war ÖVP-Kultursprecherin, und sie hat sich unsere politische Puppenshow "Bye-bye Österreich" angeschaut, in der kam sie ja auch vor. Auch Johanna Mikl-Leitner war bei der Premiere, sie huschte auf der Bühne als Hexe durch die Szene.

STANDARD: Wie oft treffen Sie Herrn Kunstminister Werner Kogler bei Kulturevents?

Gratzer: Ihn hab ich noch nie gesehen, ihn trifft man eher im Café Anzengruber.

STANDARD: Ihre ersten zehn Jahre im Rabenhof haben Sie 2013 mit dem Wilden Westen verglichen. Wie waren die vergangenen beiden Jahre?

Gratzer: Eine Hochschaubahnfahrt, hat manchmal auch depressiv gemacht. Im ersten Lockdown waren wir zunächst noch mit einer TV-Show beschäftigt, da sind wir gar nicht zum Daheimsein, Brotbacken und Ottolenghi-Kochen gekommen. Ich hatte 14-Stunden-Tage, ein Glück im Unglück, auch für die Künstlerinnen und Künstler. Beim zweiten Lockdown hab ich mich richtig gefreut: Jetzt konnte ich endlich kochen. (Renate Graber, 12.2.2022)