Das Bild von unter hochgeführten Autobahnen oder sonstigen Verkehrswegen lagernden oder wohnenden Menschen, gib’s zu, ist dir doch wohlbekannt. Wie oft bin ich nicht, etwa in Delhi, an ausgedehnten Slum-Siedlungen vorbeigegangen ohne mir, außer einem mit Neugier vermengten Anflug von Mitleid, groß etwas zu denken. Noch glatter, beinah schon mit völkerkundlichem Interesse, lief die Sache in den Metropolen Japans für mich: Dort lagerten – und lagern wohl noch immer – Arbeitslose, in der Hauptsache Männer, in selbstgebastelten Unterkünften – in öffentlichen Parks, an den Dämmen von U-Bahnen und Autostraßen entlang: alles sauber, nach japanischer Art, und fast schon mit dem Anflug einer gewissen Art von, ja, Schönheit.

Nur leicht irritiert war ich von den Ausführungen eines Stadtforschers, der meinte, man solle die Slums nicht verteufeln, sind sie doch eine primäre städtische Organisationsform und besser als nichts. Na ja. Meldungen über Erdrutsche und ihre Folgen, gerade in Elendsvierteln – da bildet und formte sich dann doch ein Fragezeichen, was sage ich: Elend lässt sich nicht beschönigen, mit welcher Rabulistik auch immer.

Ich erinnere mich gut an das erste Mal, dass ich eine Slumsiedlung, eine Favela oder wie immer man es nennen mag, sah: Es war in Istanbul, ich war in einer prächtigen Villa zu Gast – ein Stück die Straße hinunter fiel das Gelände steil ab: In der Schlucht da klebten die behelfsmäßigen Hütten am Abhang, und kaum hatte ich mich genähert, kamen bettelnde Kinder heraus.

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Wir wollen es nicht sehen! Peter Rosei fordert, gerade in der "Flüchtlingspolitik" die menschliche Verantwortung nicht zu vergessen.
Foto: AP Photo / Pau de la Calle

War es in dem Fall denn etwas anderes? – Unter der auf Stelzen geführten Autobahn an der mexikanischen Grenze lagerten Tausende, die, von weither gekommen, nun darauf warteten, die Grenze in die USA, ins gelobte Land, überschreiten zu dürfen. Es lief aber anders: Berittene Grenzpolizisten jagten die Leute auseinander, die Lagerfeuer, verlassen jetzt, glosten noch eine Weile, ihr Rauch kräuselte sich – ringsum verstreut zertretene Kleidungsstücke, zerfetzte Decken, kaputte Töpfe und anderer Hausrat.

Wo ist das Sendungsbewusstsein, das die USA einst auszeichnete, nur hingekommen? Menschenrecht, Freiheit und Demokratie wollten sie bringen, die Welt damit erlösen. Der Abzug aus Afghanistan: vorläufiger Endpunkt einer seit längerem absehbaren Entwicklung. Die Europäer? Noch sind die Staaten der EU in Sachen Flüchtlingspolitik uneins. Es zeichnet sich aber ab, dass die Befürworter eines Zauns, einer Mauer – darunter auch Österreich – sich durchsetzen werden.

Menschenmassen

Das apokalyptische Bild gegen jene zukünftigen Mauern anrennender Menschenmassen, die angesichts der Klimakatastrophe vielleicht bald nach Millionen zählen werden – diese Vision ist so schrecklich, dass wir Augen und Ohren davor verschließen wollen – gerade das nützen Populisten und Demagogen aus. Wir müssen Augen und Ohren aber offen halten, wir müssen weiterdenken, unserer Verantwortung als Menschen gerecht zu werden suchen.

Die Apokalypse hat den Vorteil, als Bild und Inhalt schlüssig, farbig und leicht kommunizierbar zu sein, indes Ansätze zu einer wie immer gearteten Lösung stets vielschichtig sein werden. Entweder unsere Zivilisation (um nicht Kultur zu sagen) geht im Ansturm der Fremden unter oder: Wir verteidigen diese Zivilisation unter Aufgabe der Humanität, die da verlangt: Alle Menschen sind gleich an Rechten, insbesondere darin, nach Wohlfahrt und Glück streben zu dürfen. Die krasse Zuspitzung des Problems übergeht geflissentlich die Möglichkeiten der kleinen Schritte, das Vertrauen darauf, dass, was getan wird, jedenfalls wohlgetan ist – so gering der Erfolg auch immer sein mag. Menschliches Bemühen findet seinen Lohn schließlich in sich selbst. Mit Selbstheiligung hat das nichts zu tun. Die Suche nach einer menschlichen Lösung ist doch unsere einzige Rechtfertigung.

Letztlich können Räume und die in ihnen lebenden Gesellschaften nur mithilfe von Konzepten geordnet werden, von deren universeller Richtigkeit die jeweiligen Gesellschaften überzeugt sind. Die Menschheit hat im Lauf ihrer Geschichte vielerlei Konzepte erfunden, angewendet und wieder verschlissen – man denke etwa an den Hellenismus, das Christentum oder den Kapitalismus. Letzterer ist für eine globale Implementierung nur scheinbar tauglich, stellt er doch grundlegend, ja beinah ausschließlich auf Befriedigung materieller Bedürfnisse ab: Materielles – das sind in dem Fall die Waren – steht aber, man mag die Erde ausbeuten, wie man will, zuletzt doch nicht in ausreichender Menge zur Verfügung: eines der Hühneraugen, um nicht zu sagen, die Achillesferse des Kapitalismus. Konzepte, die auf die Spiritualität der Menschen abstellen, haben den Vorteil, unendlich reproduzierbar zu sein: Menschlichkeit, Barmherzigkeit und Solidarität etwa sind solche Konzepte.

Hoffnungsziele

Geordneter Zuzug heißt die soziale Medizin, der sich die wohlhabenden Staaten, zumindest teilweise, verschrieben haben, was so viel bedeutet, dass sie im Grund nur gut ausgebildete, gesunde und am liebsten dazu noch wohlhabende Leute hereinnehmen wollen. Die diversen Green Cards sind nichts anderes als kaum verhüllter, institutionalisierter Braindrain. Die Armen und Ungebildeten sollen doch – bitte schön! – daheimbleiben. Selbst innerhalb der EU ist zu beobachten, dass die ärmeren Länder zusehends von ihren gut ausgebildeten Bürgern verlassen werden, man könnte sagen: Eine Völkerwanderung der Eliten, ja von jedem, der sich da Hoffnungen machen darf, hat eingesetzt – was tun?

Global gesehen wird die Klimakrise immer stärker zum Antrieb der Wanderbewegungen werden. Denken wir zusammen, dass der rasante Anstieg der Weltbevölkerung, insbesondere in den weniger entwickelten Ländern, dort zu Umweltzerstörung und deren Folgen führt, und dass andererseits gerade die Industrieländer als Hauptverursacher der Krise die Hoffnungsziele der Migranten sind, müssen wir uns zugeben, dass hier ein Teufelskreis entstanden ist, dem schwer zu entkommen sein wird.

Die Menschheit insgesamt ist mir immer wie ein gewiefter Entfesselungskünstler vorgekommen. Aus welch schwierigen Lagen konnten die Menschen sich nicht befreien, gleichviel ob die Probleme naturgegeben oder ideologisch aufgepfropft waren. All den Entfesselungsakten ist gemeinsam, dass sie zäh und langwierig abgelaufen sind – unter großen Opfern auch, insbesondere unter den Armen. Wird es diesmal anders sein? Weshalb verlässt dich da deine Zuversicht, dein guter Mut? Nein, sie verlassen mich nicht. Mir kommt bloß vor, dass mein Denken, sonst doch so hilfreich, mich, nein, nicht im Stich lässt, aber dass es nicht nützt, nicht ausreicht, wenn es sich nicht mit spiritueller, moralischer Erneuerung verbindet.

Rückbesinnung wird nicht ausreichen

Wie soll die aber aussehen? Rückbesinnung allein wird nicht ausreichen. Unlängst las ich, dass in den Ländern Europas bald hunderttausende Arbeitskräfte fehlen werden – mangels Nachwuchses. Wird hier vielleicht, in kruder ökonomischer Notwendigkeit, ein erster Ansatz liegen, sich in Entfesselungskünsten zu üben? Was kann das für ein Miteinander bedeuten? Wir brauchen euch. Denk nach!

Die Sweatshops in Kambodscha, in Thailand, in Bangladesch fallen mir ein: Unter der Arbeiterschaft dort beginnen kämpferische Gewerkschaftsbewegungen sich zu formieren. Wir sollten sie unterstützen. So könnte das Zeitfenster, das es ermöglicht, Arbeit dort mit Arbeit hier in Konkurrenz zu setzen – zum Nachteil der Arbeitenden –, sich schließen. Denk weiter! Denk nach! Mittlerweile ist es Abend geworden, es dunkelt im Zimmer, und ich muss die Lampe einschalten. (Peter Rosei, ALBUM, 12.2.2022)