Alexander Kluge schöpft seine Überzeugungskraft aus der Kunst der Überredung. Ziel des gelernten Juristen: die Menschen mit ihren Möglichkeiten vertraut zu machen.

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Ganz im Geheimen treibt den Menschen die Sehnsucht nach den warmen Wassern der Urmeere um. 37 Grad misst seine Körpertemperatur, die Nieren enthalten vergleichbar viel Salz. Aus der anfänglichen Unterscheidung "zu heiß" / "zu kalt" resultiert nach Ansicht von Alexander Kluge die gesamte, enorm steigerbare menschliche Empfindungskraft.

Auf Basis eines solchen grundlegenden Differenzierungsvermögens organisieren Menschen Gefühle. Sie bauen für die Entfaltung ihres Eigensinns Abflusssysteme: Einrichtungen zur Förderung des Unternehmungsgeists. Sie errichten kulturelle Tages- und Nachtstätten oder finden in Zirkeln zusammen und dämmern, Seite an Seite, in abgedunkelten Räumen. Umspült werden sie dabei vom Fruchtwasser der Opernmusik.

In solchen Ermittlungsverfahren, die der Bestimmung menschlicher Maßeinheiten dienen, steckt im Kern die ganze Anthropologie des Juristen, Dichters und Filmemachers Alexander Kluge. Dieser darf als der letzte Universalist gelten, als Erfinder von Aufschreibsystemen, als Bildübermittler, als eine Art Staatsanwalt, der lieber für den Angeklagten (Homo sapiens) spricht, weil er ihm unterstellt, im Grunde gutwillig zu sein. Dabei wird Kluges Weltvertrauen gleich am Anfang schwer erschüttert: In Halberstadt geboren, erlebt der Arztsohn im April 1945 die Bombardierung seiner Heimatstadt.

Eigensinn und Ordnung

Kluge wird Jurist. Er dissertiert über das Thema "universitäre Selbstverwaltung" (schon hier: die unaufhörliche Konfrontation von Eigensinn und Ordnung!) und macht sich fortan den damals noch glaubwürdigen Göttern des Fortschritts unentbehrlich. Man sieht ihn auf Fotos aus Adenauer-Deutschland ebenso schmächtig wie freudestrahlend an der Seite von Theodor W. Adorno stehen. Philosoph Jürgen Habermas, an Jahren noch älter als Kluge, hat sich dieser Tage an den jungen Kluge als einen rasenden Geschichtenerfinder erinnert, als Polyhistor in Permanenz. Mit der einschmeichelnden Stimme eines tastend Denkenden, der unaufhörlich "Fallgeschichten" zitiert, erfundene, wahre, vor allem aber wahrscheinliche.

Nichts bleibt in Kluges Spekulationswerkstätten unversucht. Er selbst lässt sich von Fritz Lang in der Kunst des Filmemachens unterweisen. Er montiert Dokumentarsplitter oder lehrt den Betrachter, selbstständig zu assoziieren (Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, 1968). Denken ist Genuss. Insofern war Kluge immer ein Krypto-Schüler Bertolt Brechts.

Menschen verdichten, so Kluge, in 100.000-Jahres-Schritten ihre Empfindungen zu Komplexen. Derentwegen errichten sie, zur getreulichen Verwaltung, Opernhäuser und Lichtspieltheater. Sie bauen Kettenfahrzeuge, lenken Kapitalströme, und sie erdolchen in Gestalt der engelsgleichen Floria Tosca den Quälgeist Scarpia und springen anschließend von der höchsten Zinne der Engelsburg in den sicheren Tod (in Puccinis Oper). Der vielleicht größte Coup Kluges bestand in der Infiltration des Privatfernsehens 1988. Er schloss sich mit dem Spiegel und einer japanischen Agentur zum Joint-Venture-Unternehmen DCTP zusammen. Fortan steckten Kluges unendlich anregende, auf Überrumpelung durch Palaver setzende TV-Formate wie Splitter im Sendefleisch der Privaten.

Kulte und Techniken

Manche seiner Bildessays besaßen die Überredungskraft von Zwei-Minuten-Experimentalfilmen. Zu anderer Gelegenheit verwickelte der freundlichste aller Dozenten sich und andere in Dispute. Er inspirierte bis spät in die Nacht Köpfe wie die DDR-Sphinx Heiner Müller oder Ökonom Joseph Vogel zu weitreichenden Spekulationen: über Begräbniskulte, Überlebenstechniken. Manchmal vertauschte er die einen mit den anderen. Oder er steckte den Fassbinder-Schauspieler Peter Berling spontan in historische Kostüme, nur um ein Gegenüber zu haben. Für einen Verwertungszampano wie RTL-Boss Helmut Thoma waren Kluges Kulturmagazine schlicht etwas so Verstörendes wie "Zwölftonmusik im Zirkus".

Dass einer von zwei neuen Kluge-Bänden nun ausgerechnet der Faszination des Zirkus gewidmet ist (Zirkus / Kommentar, bei Suhrkamp), kann nicht überraschen. Auch nicht der neugierige Fleiß eines gelehrten Erzählers, der jetzt, am Montag, 90 Jahre alt wird. Erst vor kurzem hat er um Verständnis für das Virus geworben: Einige solcher Viren seien bereits vor 35 Millionen Jahren in unser Genom eingedrungen. "Woraufhin sich einige von ihnen in Schutzengel verwandelt haben, die uns verteidigen", so Kluge. Und: "Respekt vor ihnen wäre uns dringend anzuraten." Kritik müsse man immer respektieren, egal, von wem sie stammt – eine für Kluge typische Denkfigur. "Das Virus kritisiert unsere Lebensweise." Kluge unterstellt jeder Lebensform jene Freundlichkeit, die ihn selbst auszeichnet. (Ronald Pohl, 14.2.2022)