Der Politikwissenschafter Anatoly Reshetnikov hinterfragt im Gastblog die Motive Russlands.

Die bange Erwartung eines Krieges zwischen den beiden größten Ländern Europas, Russland und die Ukraine, hat längst auch den Rest des Kontinents erreicht und füllt seit Wochen die Titelseiten der Medien. Ein slowakischer Bekannter erzählte mir unlängst, dass er seinen Benzintank immer voll hat, denn „man weiß ja nie, wann sie kommen, oder?" Einige Freunde aus Großbritannien arbeiten an einem Notfallszenario, um Verwandte rechtzeitig aus der Südukraine zu evakuieren, falls die Dinge dort außer Kontrolle geraten. Ein österreichischer Kollege antizipiert, wie sein internationales Fachwissen noch gefragter werden würde, wenn der Krieg schließlich ausbräche. Da Erwartungen manchmal die Tendenz haben, zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen zu werden, ist es jetzt wichtiger denn je, die rätselhafte Logik des sich entfaltenden Patts noch einmal zu hinterfragen.

Viele offene Fragen

Erstens, so wiederholen hohe russische Beamte nachdrücklich, hängen die Hauptgründe für die Intensivierung der russischen Kriegsvorbereitungen mit Artikel 3 des OSZE-Verhaltenskodex zusammen, den der Westen angeblich verletzt hat. Artikel 3 definiert die europäische Sicherheit als „unteilbar“ und hält fest, dass die OSZE-Mitgliedstaaten „ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen werden.“ Wenn dies jedoch der springende Punkt ist, wie Russland behauptet, warum sollte man dann jetzt handeln, im Gegensatz zu vor ein, zwei oder besser achtzehn Jahren, als die Nato mit ihrer Erweiterung 2004 zum ersten Mal die russischen Landesgrenzen erreichte?

Zweitens ist die Politik der offenen Tür für die Nato-Mitgliedschaft, die nach russischer Auslegung angeblich dem Grundsatz der Unteilbarkeit widerspricht, Russland schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands, als Michail Gorbatschow mündliche Garantien erhielt, dass die Nato nicht nach Osten expandieren würde, bestand Russland darauf, dass die Öffnungspolitik eine Bedrohung für die eigene Sicherheit darstelle. Die Nato hielt ihr mündliches Versprechen nicht ein und blieb dem Grundsatz der offenen Tür im Einklang mit ihrem Verständnis von Souveränität treu.

Warum stellte Russland nun die gleiche Forderung, die seit 30 Jahren nicht erfüllt wurde, und dazu eine noch weniger durchführbare Forderung, alle militärischen Einsätze in Europa zu beenden, die nach Mai 1997 erfolgten? Warum die Ukraine herausgreifen, wenn ihre Chancen, der Nato beizutreten, heute viel geringer sind als vor 2014 (da die Ukraine jetzt Artikel 5 geltend machen kann, sobald sie der Organisation beitritt)?

Politische Loyalitäten

Drittens: Warum eine Show daraus machen und Truppen am helllichten Tag verlegen, sodass jeder Zivilist mit einem Smartphone es filmen kann? Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte stellt sich die Frage: Wenn Russland eine Offensive plant, wären dann kleine grüne Männchen (oder "höfliche Menschen", wie sie in Russland genannt werden) nicht unauffälliger als große Militäraufmärsche?

Und schließlich ist das politische System Russlands von den herrschenden Eliten ideal darauf abgestimmt worden, ihnen das Beste aus zwei Welten zu bieten: Erstens die Möglichkeit, enorme Korruptions-Einnahmen im eigenen Land zu erzielen, indem die kaputten inländischen Institutionen manipuliert werden; und zweitens die Möglichkeit, die erworbenen Vermögenswerte (sowie Familien) in Länder zu verlagern, in denen ihre Eigentumsrechte unabhängig von ihrer politischen Loyalität stets gesetzlich geschützt sind. Das Hotel und Palais Strudlhof in Wien, das der Familie eines hohen Parteifunktionärs aus Moskau gehört, ist ein gutes Beispiel dafür. Menschen, die solche Praktiken betreiben, bilden für den Kreml den wichtigsten Loyalitätskreis. Warum sollte man riskieren, ihre Unterstützung zu verlieren und Widerstand zu provozieren, indem man einen Krieg anzettelt, der sie zweifellos von ihren geliebten Besitztümern und ihrem Lebensstil abschneiden würde? 

Seit Monaten beschäftigt der Russland-Ukraine-Konflikt die Weltpolitik.
Foto: WANG Zhao / AFP

Alles nur russisches Kalkül?

Eine logische Erklärung könnte sein, dass Russland nicht vorhatte einen Krieg zu beginnen. Stattdessen beschloss Russland, der anhaltenden Ausgrenzung und Vernachlässigung überdrüssig und dem Mangel an Fortschritt bei Themen, die es für wichtig hält, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um sich Gehör zu verschaffen. Um die demoralisierende Isolation zu bekämpfen, musste es zunächst Truppen an der ukrainischen Grenze aufstellen.

Dann konnte das eigene Narrativ im streng kontrollierten russischen Fernsehen angeheizt und durch eine Liste unrealistischer Forderungen an den gesamten Westen und die Nato ergänzt werden. Wichtig ist, dass die Unerreichbarkeit der zentralen Forderungen Russlands für alle beteiligten Akteure (einschließlich derer, die sie formulierten) offensichtlich war. Solange die Wahrnehmung der russischen Bedrohung jedoch glaubhaft bleibt, scheint die Wiederaufnahme eines Dialogs über sekundäre Fragen bei gleichzeitiger Ablehnung der primären eine annehmbare Option für die Nato zu sein. Indem sie sich inmitten einer Sicherheitskrise dafür entscheidet, wirkt sie konsequent und gleichzeitig vernünftig.

Wenn dies tatsächlich das Hauptmotiv Russlands war, dann war der Schachzug teilweise erfolgreich. Mit einem entschiedenen „Nein“ zu seinen „Hauptforderungen“, hat sich Russland nicht nur das weltpolitische Rampenlicht katapultiert, sondern auch dafür gesorgt, dass die Gespräche über sekundäre Fragen zwischen Russland und der Nato wiederaufgenommen werden. Russland und die Nato werden wahrscheinlich erneut über Kurz- und Mittelstreckenraketen, die Verlegung künftiger Militärübungen weg von gemeinsamen Grenzen und die zulässige Annäherungsdistanz für Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge, sowie andere damit zusammenhängende Fragen diskutieren.

Wird Russlands Agieren zum Bumerang?

Das Problem ist jedoch, dass Russland durch die Verbreitung seiner Darstellung und die Erhöhung des Einsatzes zwei unvermeidliche Reaktionen auslöst, die nach hinten losgehen könnten. Erstens wollen die Ukraine und andere Nachbarstaaten Russlands nun stärker als je zuvor der Nato beitreten, während die östlichen Nato-Mitglieder versuchen, die Nato-Präsenz zu verstärken. Diese Entwicklungen treffen den Kern der russischen Behauptung, dass die OSZE-Mitgliedstaaten die Sicherheit aufteilen und ihre eigene Sicherheit auf Kosten Russlands erhöhen. So gerät Russland in eine diskursive Sackgasse, in der es entweder zu seinen Argumenten stehen, oder sich einen raffinierten Ausweg überlegen muss.

Zweitens sind die jüngsten Vorstöße Russlands ein gefundenes Fressen für die Nato. Nach 30 Jahren einer ernsthaften, wenn nicht gar existenziellen Krise, die durch das plötzliche Verschwinden ihrer Nemesis im Jahr 1991 ausgelöst wurde, hat die Nato wieder einen klar erkennbaren äußeren Gegner. Dies erneuert die Daseinsberechtigung der Nato, was wohl zu einer Erhöhung der finanziellen Mittel und mehr militärische Aktivitäten führt. Für eine große militarisierte, bürokratische Organisation, mit einer eigenen bürokratischen Logik und weiteren Expansionsmöglichkeiten, ist das derzeitige Klima der Konfrontation, wenn es sorgfältig gesteuert wird, kein Dilemma, sondern ein Segen (daher die vergleichsweise harschen schriftlichen Antworten, die Russland von der Nato erhalten hat, im Gegensatz zu denen der USA).

Und schließlich sollten wir bei aller Aufmerksamkeit für das große Ganze und die globalen strategischen Manöver nicht vergessen, welch verheerende Auswirkungen dies auf das tägliche Leben und die Weltanschauung der Menschen in der Ukraine hat. Russland mag teilweise erreicht haben, was es strategisch wollte, trotz der immer noch drohenden und spürbaren Eskalationsrisiken, aber die Ukrainer werden das wohl nicht so schnell vergessen. (Anatoly Reshetnikov, 15.2.2022)

Anatoly Reshetnikov ist Assistant Professor für Internationale Beziehungen an der Webster Vienna Private University.

Übersetzt aus dem Englischen von Katharina Neumann.

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