Unwahrheit oder Pflicht? Manche Diskussionsgruppen auf Telegram sind – verglichen mit den Vorurteilen – überraschend rational. In vielen wird der Ton aber immer aggressiver. Politiker, die für die Impfpflicht gestimmt haben, seien etwa "Volksverräter", die alle noch "ihre Quittung kriegen!!!!" werden.

Foto: Screenshot
Foto: Screenshot
Foto: Screenshot
Foto: Screenshot
Foto: Screenshot
Foto: Screenshot

Außerparlamentarische Opposition kann stressig sein. Kaum schaut man ein paar Stunden nicht aufs Handy, wird es unübersichtlich: 157 neue Messages in "Corona Widerstand AT-D-CH", 236 in "Sag Nein zur Impfpflicht", 178 in "DFÖ-Widerstand". Die größeren Impfgegnergruppen im Messengerdienst Telegram werden täglich mit hunderten Nachrichten geflutet. Es ist unmöglich, sich darin strukturiert zurechtzufinden. Die Aussage, die von diesem Wirrwarr bleibt: Die Welt der Impfungen, sie ist ein Sodom und Gomorrha. Trau niemandem.

Telegram hat es in den vergangenen Monaten zu einiger Berühmtheit als Informations- und Organisationszentrale für Impfgegner gebracht. Während andere Plattformen zunehmend Maßnahmen gegen Desinformation ergreifen, kennt der Messengerdienst mit Sitz in Dubai keine inhaltliche Moderation. Auf Telegram hat sich so etwas wie ein kleines Universum aus Angst, Wut und Frustration gebildet. Dringt aus dieser Welt etwas an die Öffentlichkeit, sind es meist seltsame Unterhaltungs fetzen. Also Screenshots mit Problemen wie "Ich hatte Sex mit einem Geimpften. Könnte es sein, dass ich jetzt auch geimpft bin?".

Ein Satanist namens Drosten

Würde es bei solchen "Problemen" bleiben, wäre das noch halbwegs harmlos. Aber in diesen Gruppen werden auch Dinge besprochen, die reale Konsequenzen außerhalb von Telegram und den Köpfen seiner Nutzer haben. Wie zum Beispiel der Umgang mit der allgemeinen Impfpflicht und damit, wie man diese umgeht. Verbringt man vor, während und kurz nach deren Einführung viel Zeit auf Telegram, möchte man lachen, weinen und sich Sorgen machen. Am liebsten alles gleichzeitig.

Es ist Mittwochmorgen, und Christian Drosten hält Telegram auf Zack. Der Virologe, dem Impfgegner gern alles von Schuld an Schulschließungen bis hin zum Satanismus unterstellen, hat in einem Interview gesagt, dass in dem Labor in Wuhan Sachen gemacht wurden, "die man als gefährlich bezeichnen könnte". Das hat zwar nie jemand bestritten, aber viele glauben, dass sich Drosten damit in einem autorisierten Interview selbst überführt habe.

Expertinnen weisen darauf hin, dass sich die Szene radikalisiert.
Foto: Screenshot

Entgegen hartnäckigen Gerüchten ist Telegram kein "sicherer" Messenger. Dafür hat er andere Features, die ihn zu einem guten Verbreitungsweg für verschwörerische Inhalte machen. Es gibt offene wie geheime Diskussionsgruppen, die wie ein klassischer Gruppenchat funktionieren. Es gibt die Möglichkeit, ihn als Newsletter zu nutzen. Der ehemalige BZÖ-Politiker und heutige Anti-Impf-Aktivist Martin Rutter spricht dort zu knapp 35.000 Followern. Und Telegram macht es den Usern irrsinnig leicht, Inhalte von einer Gruppe in eine andere weiterzuleiten.

Manche der Impfgegnergruppen sind – verglichen mit den Vorurteilen – überraschend rational. Mit Moderatoren, die offenbar noch in der Realität verhaftet sind und auch einmal User darauf aufmerksam machen, dass sie mehrfach widerlegte Behauptungen aufstellen. Oder dass bestimmte Dinge – wie eine individuelle, sofortige "Klage gegen die Impfpflicht" – nicht möglich sind. Das ist aber klar die Minderheit. Viele Unterhaltungen in Gruppen wie "widerstandAustria1" oder "NEIN zu 3G und NEIN zur Impfpflicht" sind vor allem bizarr.

Da enthält die britische Fünf-Pfund-Note auf einmal einen "5G-Turm mit Strahlungswellen und das Symbol des Coronavirus". Oder jemand erzählt von einer Freundin, deren Lebensgefährte nach der Impfung einen von innen nach außen gedrehten Penis gehabt hätte. Es gibt bunte Shareables mit Boomer-Humor, Reaction-Gifs von Elefanten, die sich auf der Straße erleichtern, und viele Emojis, gern auch dreimal dasselbe hintereinander. Das kann man alles noch mit einem Lachen abtun, auch wenn es oft wehtut.

Am Anfang ist die Welt der Impfgegner auf Telegram riesig und erschlagend. Man muss etwas Zeit dort verbringen, um zu erkennen, wie viel sich wiederholt und aufeinander bezieht. Was eben auch mit der Weiterleitungsfunktion zu tun hat. Egal in welchen Gruppen man sich bewegt, es begegnen einem dieselben Memes, dieselben Links zu "alternativen" Medien und dieselben Postings. Und schaut man auf das "weitergeleitet von", tauchen immer wieder dieselben Quellen auf. Das macht es so schwierig, die Substanz solcher Phänomene einzuschätzen: Sie schauen von außen groß und stabil aus. Es kann aber auch sein, dass diese Größe von einem kleinen harten Kern erzeugt wird, der immer lauter wird und sich so selbst Bedeutung verschafft. Bei Telegram kommt dazu, dass es einen offenen und einen versteckten Teil gibt. Ein "dark Telegram" quasi.

Die virtuelle Endzeitbibel

In Gruppen ohne Moderation findet sich, unterstützt durch den simplen Weiterleitungsmechanismus, oft eine brandgefährliche Mischung. Dort stehen dann legitime Meinungen (eine Impfpflicht verletzt mein Recht auf Selbstbestimmung) neben komplettem Schwachsinn ("Die Spikes kriegt man nie wieder raus!"), zwielichtigen kommerziellen Angeboten und gefährlichen Verschwörungstheorien. Gerade noch fragt einer, wie man zu einem Termin bei einem Amtsarzt kommt, darunter zitiert jemand die Offenbarung des Johannes, das Endzeitbuch der Bibel. Man kann sich zumindest vorstellen, wie halbwegs vernünftige Menschen mit Sorgen in solche Gruppen kommen und langsam abdriften. Das wäre dann der Moment für die Sorge. Experten weisen seit Monaten darauf hin, dass sich die Szene radikalisiert. Es gibt immer wieder Menschen, die im Bezug auf Politiker, die für die Impfpflicht gestimmt haben, offen von "Volksverrätern" schreiben, die alle noch "ihre Quittung kriegen!!!" werden.

Foto: Screenshot

Nachdem die Regierung die Impfpflicht gegenüber dem ersten Entwurf entschärft hat, haben die Impfpflichtdiskussionen auf Telegram ein wenig an Verzweiflung und Schärfe verloren. Genauer: Sie haben sich zweigeteilt. Es gibt weiterhin Menschen, die sich im Faschismus wähnen, "lieber sterben" würden, als sich impfen zu lassen, und die hinter der ab geschwächten Pflicht nur einen Trick sehen. Internetkrieger eben, bei denen es hoffentlich beim Internetkrieg bleibt. Andere User hingegen suchen konkreten juristischen Rat, wie die Impfpflicht zu umgehen sei. Die Ratschläge sind teilweise hanebüchen. Fairerweise muss man aber sagen, dass man im Internet nicht in eine Impfgegnergruppe muss, um schlechten juristischen Rat zu bekommen. Im Grunde lassen sich die Ratschläge, wie man die Impfpflicht ohne Impfung übersteht, grob in drei Kategorien einteilen. Vier, wenn man die bewusste Infektion mitzählt.

Variante eins: Man soll die Impfpflicht erst einmal ignorieren. Das ist logisch: Es weiß aktuell niemand, ob und wann die dritte Stufe, also der automatische Strafmechanismus, kommt. Deshalb raten die Szenejuristen, von denen es ein paar gibt, meist zur Ruhe. "Sie haben mein Wort als Rechtsanwalt, dass sie vor dem 15. 3. 2022 wegen einer Verletzung es Covid-19-IG nicht rechtmäßig bestraft werden können", heißt es in einem oft geteilten Post. Variante zwei: das System durch kollektives Handeln zum Zusammenbruch bringen. Etwa indem alle Impfgegner gleichzeitig um einen Termin bei einem Amtsarzt ansuchen (von diesen gibt es nur rund 250) oder durch massenhaften Einspruch gegen Bußgelder die Verwaltungsgerichte verstopfen. Die dritte Variante zielt auf individuelle Ausnahmegründe wie Schwangerschaft ab. Ein Ratschlag, der in den letzten Tagen vermehrt die Runde machte: obdachlos werden. Beziehungsweise für den Staat obdachlos erscheinen.

Ist der Zug abgefahren?

Das ist alles kein Scherz. Und das ist denn auch der traurige Part: Der Gedanke, dass das ja alles keine Accounts sind, sondern dahinter Menschen stehen. Menschen, deren irrationale Ängste vor einer mittlerweile millionenfach verabreichten Impfung so stark sind, dass sie tatsächlich darüber nachdenken, wie sie vor dem Staat als Obdachloser auftreten können. Denen man irgendwie gerne helfen würde, was aber nicht geht, weil der "Man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen"-Zug bei solchen Sorgen längst abgefahren ist.

Die Frage, wie gefährlich Telegram ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Die schlimmen und teils auch strafrechtlich bedenklichen Teile – wie die Frage nach gefälschten Impfpässen oder Speichel von Infizierten – gibt es zweifellos, sie sind aber nicht repräsentativ für Telegram, zumindest nicht für den offenen Teil. Sie verstecken sich in den geschlossenen Gruppen und laufen auch dort eher unter "Ich hab von 15 Leuten gehört, die sich so angesteckt haben" als "Schreib mich an, ich hab eine Telefonnummer für dich". Ansonsten ist der Messengerdienst vor allem ein Platz, wo jeder schnell Bestätigung für seine Spinnereien bekommt. Und das ist natürlich ein Problem.

Handy an, 103 neues Messages. Eine Diskussion dreht sich um die Angst, dass Kriminalbeamte und Journalisten der Debatte folgen könnten. "Wenn die nichts Besseres zu tun haben, sollen sie doch mitlesen", sagt eine Userin. Gute Beleidigung, das muss man ihr lassen. (Jonas Vogt, 12.2.2022)