Pamela Rendi-Wagner sitzt am schlichten Besprechungstisch ihres Büros, vor ihr liegen ein paar Zettel mit Notizen, dunkelblauer Anzug, graues T-Shirt, ihre Augen leuchten. Es läuft. Und daran hatte eigentlich niemand mehr geglaubt – außer vermutlich sie selbst.

Die ÖVP rutscht von einer Affäre in die nächste, Sebastian Kurz ist weg, die Umfragen stimmen: In den meisten Erhebungen liegt die SPÖ an erster Stelle oder zumindest Kopf an Kopf mit der Volkspartei. Und an der Spitze der SPÖ steht weiterhin Rendi-Wagner, die politisch ständig Totgesagte; jene Frau, der selbst in ihrer eigenen Partei die wenigsten richtig viel zutrauen. Aber sie blieb, allen zum Trotz, und vielleicht geht ihr Kalkül, dass sie die SPÖ wieder zurück in eine Regierung führt, tatsächlich noch auf. Könnte sie gar irgendwann Kanzlerin werden?

Pamela Rendi-Wagner ist sich ihrer Sache sicher: Sie will Kanzlerin werden.
Foto: Regine Hendrich

Rendi-Wagner fährt sich durchs Haar. Seit die SPÖ in Umfragen hochklettert, hat sie ihre Frisur geändert. Sie trägt die Haare jetzt länger und lockig nach oben toupiert. Sie könnte auch die erfolgreiche Managerin eines mittelständischen Unternehmens verkörpern. Tatsächlich ist sie die Chefin eines Jahrmarkts der Eitelkeit – und wie in dem gleichnamigen Roman von William Makepeace Thackeray ist auch die Geschichte der Sozialdemokratie derzeit eine ohne Held oder Heldin.

Denn Rendi-Wagner ist in der SPÖ bis heute umstritten. Eine offene Alternative zu ihr tut sich allerdings auch keine auf. Oder wird Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil demnächst gegen sie in den Ring steigen? Könnte schlussendlich doch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig die Bundespartei übernehmen?

SPÖ rechnet mit Neuwahlen

Die SPÖ-Chefin selbst glaubt jedenfalls an baldige Neuwahlen – oder sie hofft zumindest darauf. Je rascher gewählt würde, desto eher wäre wohl auch sie als Spitzenkandidatin gesetzt. Ein Wechsel an der Spitze und damit ein interner Machtkampf kurz vor einer Wahl wäre für die SPÖ hochriskant. Das wissen auch die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Und so schmieden rote Strategen von Wien bis ins Burgenland derzeit Pläne, wie und mit wem sich die Sozialdemokratie zurück an die Macht kämpfen kann – sei es schon bald oder erst nach dem nächsten regulären Wahltermin 2024.

Doch auch abseits einer Wahl stellen sich in der SPÖ viele Fragen: Was wird die große rote Erzählung nach der Pandemie? Welche Bevölkerungsteile will die Partei vorrangig ansprechen? Vergrämte ÖVP-Wählerinnen? Städtische Linke? Den vielzitierten kleinen Mann? Angesichts schwacher oder angeschlagener politischer Gegner tut sich ein unerwartetes Zeitfenster auf. Aber wird Rendi-Wagner in der Lage sein, die SPÖ aus dem historischen Tief der vergangenen Wahl zu führen? Und werden die mächtigen Männer in der Partei sie machen lassen?

Ambivalentes Profil

Pamela Rendi-Wagner ist keine Unbekannte mehr. Vor fünf Jahren ist sie als Gesundheitsministerin in die Spitzenpolitik eingestiegen, Ende 2018 übernahm sie die SPÖ. Und doch ist es bis heute nicht ganz einfach, ihr Profil zu umreißen.

Sie ist kontrolliert, sachlich, konstruktiv und trotzdem oft nicht klar in der Botschaft, fast oberflächlich. Rendi-Wagner ist eine sympathische und angenehme Gesprächspartnerin, da widersprechen selbst politische Gegner nicht, und dennoch wirkt sie auf viele nicht authentisch. Sie ist eine selbstbewusste Frau mit einem unglaublichen Durchhaltevermögen, doch gleichzeitig immer wieder fast ein wenig patschert, wenn es um Themen abseits ihrer unbestrittenen Expertise im Bereich Gesundheit geht. Der Fairness halber muss man sagen: Einige ihrer Parteifreunde haben durch das kontinuierliche Sägen an ihrem Sessel auch viel dazu getan, um sie nachhaltig zu beschädigen.

STANDARD: Frau Rendi-Wagner, einfach haben Sie es nicht mit Ihrer Partei.
Rendi-Wagner:
Was ist schon einfach? Wenn man vorn steht, hat man Verantwortung zu tragen. Ich mache meine Politik. Ich komme aus der Medizin und Wissenschaft und bin eine absolut auf Sachlichkeit fokussierte Person. Das ist das, was mich am Laufen hält. Das, und nicht zu viel nach links und nach rechts zu schauen.

STANDARD: Dann schauen wir nach vorn. Wo wollen Sie mit der SPÖ hin?
Rendi-Wagner:
Mein Wunsch ist es, klare Nummer eins in Österreich zu werden und dieses Land in eine sozialgerechte Zukunft zu führen. Eine nachhaltige Zukunft für unsere Kinder. Da geht es um die Energiewende, Chancen durch Bildung und Verteilungsgerechtigkeit. Dafür möchte ich Kanzlerin werden.

STANDARD: Wofür steht die SPÖ unter Ihrer Führung konkret?
Rendi-Wagner:
Sie steht für die vielen arbeitenden Menschen in unserem Land, vom Hochofenarbeiter bei der Voest, dem Angestellten bis hin zu kleineren und mittleren Unternehmern. Das ist die starke gesellschaftliche Mitte, die unser Land trägt. Diese Menschen erwarten sich von uns, dass sie durch ihre Arbeit gut leben und mit ihrer Leistung für sich und ihre Kinder etwas aufbauen können. Aber auch, dass wir Probleme lösen. Da geht es um den Pflegenotstand, das veraltete Bildungssystem, in dem vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten zu den Leidtragenden zählen. Eine der größten Herausforderungen für mich ist aber die gesellschaftliche Spaltung und damit verbunden: Wer zahlt die Kosten der Pandemie?

Knapp zusammengefasst lautet die Antwort von Rendi-Wagner darauf: Millionäre und Großkonzerne besteuern. Es tut sich damit aber auch eine neue Frage auf, die für die Zukunft der Sozialdemokratie womöglich eine der relevantesten ist: Mit welcher Mehrheit sollen rote Kernvorhaben wie etwa Vermögenssteuern überhaupt jemals umsetzbar sein? Mit der ÖVP wären sie das jedenfalls nicht.

STANDARD: Angesichts neuer ÖVP-Chats – Stichwort: "rotes Gsindl" – und der Korruptionsvorwürfe: Ist eine Koalition mit der Volkspartei für Sie überhaupt noch vorstellbar?
Rendi-Wagner: Diese herabwürdigende Haltung und Wortwahl ist befremdlich und zeigt, dass unser Land eine neue politische Kultur braucht. Was mögliche künftige Koalitionen betrifft, schließe ich eine Zusammenarbeit mit der FPÖ aus.

Auch fernab von Rendi-Wagners Büro wird in der SPÖ derzeit an verschiedenen Stellen intensiv darüber nachgedacht, wie es mit der Sozialdemokratie weiter gehen kann und soll. Und konkret: wie eine "linke Mehrheit" in Österreich möglich werden könnte. Mit linker Mehrheit ist gemeint: eine künftige Koalition aus SPÖ, Grünen und Neos – wobei eine Millionärssteuer wohl selbst in dieser Koalition an den Pinken scheitern würde. Aber trotzdem: Rot-Grün-Pink?

Lange Zeit war eine solche Konstellation hierzulande de facto undenkbar. Inzwischen ist sie nicht mehr gänzlich unrealistisch. Der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik hat zahlreiche Erhebungen analysiert: "Die Mehrheit für die türkis-grüne Bundesregierung ist außer Sichtweite. Die alternative Variante SPÖ-Grüne-Neos liegt in der Tendenz gleichauf mit oder sogar ein wenig vor Türkis-Blau." Unklar sei derzeit vor allem, sagt der Wissenschafter, ob die Impfskeptikerpartei MFG den Einzug in den Nationalrat schaffen würde – wodurch Mehrheitsverhältnisse sensibel verändert werden könnten.

"Das beste Szenario wäre, dass sich nach der nächsten Wahl eine linke Mehrheit aus SPÖ, Grünen und Neos ausgeht", sagt Burgenlands Landeschef Hans Peter Doskozil.
Foto: APA/ Robert Jäger

Hier kommt Landeshauptmann Hans Peter Doskozil ins Spiel. Im Gespräch mit dem STANDARD sagt er unverblümt: "Das beste Szenario für die Sozialdemokratie wäre aus meiner Sicht, dass sich nach der nächsten Wahl eine linke Mehrheit ausgeht, die sich aus SPÖ, Grünen und Neos zusammensetzt." Burgenländische Strategen argumentieren: Mit Doskozil an der Spitze der SPÖ wäre eine solche Koalition realistisch, da er durch seine restriktivere Haltung in Asyl- und Migrationsfragen im größeren Stil auch Mitte-rechts-Wähler abschöpfen könne.

Plant Doskozil also gerade das neue, rote Projekt Ballhausplatz wie einst Sebastian Kurz? Parteichefin absägen, Kanzleramt zurückerobern? Aus seinem Umfeld hört man recht unverhohlen, er liebäugle mit der Idee, Spitzenkandidat bei der kommenden Wahl zu werden – und im Fall Rendi-Wagner herauszufordern. Gleichzeitig baue Doskozil das Burgenland gerade zu einer sozialdemokratischen Modellregion aus, wo sich jede und jeder inhaltlich schon jetzt ein Bild machen könne – das zeige sich am Mindestlohn von 1700 Euro im öffentlichen Dienst, seinem Konzept für leistbares Wohnungseigentum und der Anstellung pflegender Angehöriger.

Die burgenländische Idee lautet: Alles, was der Markt nicht regelt, regelt eben das Land. Und Doskozils Konzepte ließen sich auf ganz Österreich umlegen, ist man im Burgenland überzeugt. Konkrete Themen, ein Programm habe er also bereits.

Doch selbst manche seiner Fans in der Partei fürchten, Doskozil würde – nach all den Querschüssen auf Kosten der SPÖ und ihrer Vorsitzenden – auf einem roten Parteitag womöglich nie eine Mehrheit bekommen. Sprich: Es ist fraglich, ob ihn die SPÖ jemals zum Chef wählen würde. Aus seinem Lager hört man: Eine knappe Mehrheit reiche, am Ende wäre er auch mit den Stimmen von knapp über 50 Prozent der roten Delegierten gewählt – man sei da schmerzbefreit.

Wiener Unterstützung

Rendi-Wagner sieht sich selbst hingegen als unumstößliche nächste Spitzenkandidatin; hinter ihr steht die Wiener Landespartei – also allen voran Bürgermeister Ludwig, der wohl mächtigste Rote im Land. Es wird zwar immer wieder spekuliert, ob er nicht irgendwann selbst das Ruder der Bundespartei übernehmen könnte. Ludwig streitet entsprechende Bestrebungen aber ab – und viele in seiner Partei halten das für glaubwürdig.

Rendi-Wagner lässt sich im Gegensatz zu Doskozil auf Fragen ihrer Wunschregierung nicht ein. Vor allem ihre Kritiker behaupten, ihr würde auch eine Neuauflage der großen Koalition gefallen – im Fall auch als Juniorpartner, frei nach dem Motto: Hauptsache wieder regieren. Auf Nachfrage ist ihre Antwort aber zumindest in einem Punkt deutlich:

STANDARD: Was ist aus Ihrer Sicht der attraktivere Job – Oppositionsführerin oder Vizekanzlerin?
Rendi-Wagner:
Kanzlerin.

Ihre Chancen, tatsächlich irgendwann Kanzlerin zu werden, sind laut Ennser-Jedenastik, Assistenzprofessor am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, gar nicht so schlecht: Rendi-Wagner sei diesbezüglich "sehr weit vorn dabei". Die SPÖ liege aktuell über ihrem Nationalratswahlergebnis. Man könne zwar einwenden, sagt der Politikwissenschafter, dass sie angesichts der türkis-schwarzen Krise besser dastehen könnte. Aber die SPÖ habe sich unter Rendi-Wagner auch schon in einer schlechteren Lage befunden. Grundsätzlich sei die Wahrscheinlichkeit groß, "dass man irgendwann im Kanzleramt endet", wenn man eine der beiden stärksten Parteien dieser Republik anführt – also die SPÖ oder die ÖVP.

Abgesehen davon glaubt Ennser-Jedenastik nicht, dass die ÖVP in den nächsten Monaten zur Ruhe kommt. "Im März startet ein U-Ausschuss, der sich mit den Korruptionsvorwürfen gegen die ÖVP beschäftigt, die Impfpflicht droht der Regierung um die Ohren zu fliegen, und es ist auch nicht auszuschließen, dass es in manchen Verfahren gegen ÖVP-Politiker Anklagen kommt", sagt er. "Manchmal glänzt man schon, weil man einfach weniger korrupt oder patschert ist."

Die rote Antithese

In der SPÖ-Zentrale weiß man das auch. Dort wird die Strategie verfolgt, Rendi-Wagner als Antithese zur skandalgebeutelten ÖVP aufzubauen. Die Oppositionsführerin soll in der Bevölkerung als stabiler, sachlicher Gegenpol inszeniert werden. Fast mantraartig schreibt sich Rendi-Wagner dafür derzeit selbst und ihrer Partei "Geradlinigkeit" zu. Attribute, die der SPÖ ihrer Meinung nach den Erfolg der vergangenen Monate beschert haben.

Rendi-Wagner verweist dieser Tage auch gerne auf Deutschland. Dort konnten die Sozialdemokraten und Parteichef Olaf Scholz nach einer langen roten Durststrecke überraschend das Kanzleramt erobern – auch deshalb, weil die Konkurrenz strauchelte. "Der Erfolg der SPD in Deutschland hat gezeigt, dass sich langer Atem auszahlt", sagt Rendi-Wagner. In dem Nachbarland sehe man auch, "was möglich ist, wenn die gesamte Bewegung geschlossen hinter einem Spitzenkandidaten steht", erklärt sie fast mahnend in Richtung mancher Genossen. "Wenn es unserer Bewegung gelingt, an einem Strang zu ziehen, dann ist ein Sieg bei der nächsten Wahl möglich."

Viel Stoff, wenig Ertrag

Rendi-Wagners Problem ist derzeit, dass die SPÖ unter ihr zwar viele Themen setzt, aber – abseits von Corona – damit wenig Beachtung findet. Allein in den vergangenen eineinhalb Wochen forderte die rote Bundespartei: die Aufnahme von Pflegekräften in die Schwerarbeiterregelung, eine Verschiebung der Anpassung von Richtwertmieten und mehr "soziale Verträglichkeit in der Klimapolitik". Zu wenig tut Rendi-Wagner also jedenfalls nicht, aber auch das Richtige?

"Wir treiben jede Woche eine andere Sau durchs Dorf, aber bleiben auf keinem Thema lang genug drauf", sagt ein roter Funktionär, der namentlich nicht genannt werden möchte. Er ist damit keine Ausnahme: Viele in der SPÖ sprechen gerne über den Zustand der Partei, aber kaum jemand möchte mit seinem Namen dazu stehen.

"Mein Wunsch ist es, klare Nummer eins in Österreich zu werden und dieses Land in eine sozialgerechte Zukunft zu führen", sagt die SPÖ-Chefin.
Foto: Regine Hendrich

DER STANDARD hat mit zahlreichen führenden Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gesprochen. Was die Analysen vieler eint: Der Bundespartei mangle es an einer Gesamtstrategie. Oder wie es im Politsprech heißt: Die große Erzählung fehlt. Darüber hinaus gebe sich die SPÖ-Chefin zu staatstragend und mutlos, in der Opposition sei die Partei nie angekommen. Zuletzt habe sich das an der Debatte um die Impfpflicht gezeigt – da wollte Rendi-Wagner um jeden Preis mit der Regierung mitstimmen und intern Geschlossenheit demonstrieren. Jetzt droht die Impfpflicht ein Rohrkrepierer zu werden, den die SPÖ mitzuverantworten hat.

Rendi-Wagners Anhänger entgegnen: In der Krise konnte sich die Parteichefin als Gesundheitsexpertin profilieren, auch für andere Sozialthemen trete sie ein. Für alles andere sei in der Krise wenig Platz gewesen – das werde sie nachholen.

STANDARD: Frau Rendi-Wagner, wenn Sie jetzt sofort eine Ihrer Forderungen umsetzen könnten, welche wäre es?
Rendi-Wagner: Eine umfassende Pflegereform. Die Menschen müssen die Sicherheit haben, dass sie in Zukunft, wenn sie Pflege benötigen, diese auch ohne finanzielle Sorgen bekommen können.

Für Pamela Rendi-Wagner spricht jedenfalls die Statistik: Noch jeder SPÖ-Chef seit 1970 wurde irgendwann Kanzler. Davor war zwischen 1957 und 1967 Bruno Pittermann Vorsitzender der Sozialdemokratie. Er, immerhin, überlebte als Vizekanzler drei Regierungschefs der ÖVP. Rendi-Wagners Vorgänger hatten allerdings keine Widersacher im Burgenland sitzen. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 12.2.2022)