Das Publikum mag schrumpfen, dieser Schlagersänger liefert dennoch mehrere Tausend Volt: Michael Thomas in Ulrich Seidls neuem Film "Rimini".

Berlinale

Der Name Ulrich Seidl ist im internationalen Festivalzirkus nicht nur gut eingeführt, sondern auch mit hohen Erwartungen verbunden. Was bei ihm zu sehen ist, steht immer im Verhältnis zur Bereitschaft seiner Figuren, sich seinen Bildern zu überlassen. Die Zeitspannen zwischen den Filmen machen den Druck nicht kleiner, Safari war von 2016. Dass Seidls Spielfilm Rimini nun gleich zu Beginn dieser komprimierten Berlinale läuft, ist also – dramaturgisch gedacht – ein guter Schachzug: Er soll dem Festival eine erste Erregung garantieren. Und besteht sie nur darin, dass er die Erwartung nicht erfüllt.

Rimini liefert. Aber doch anders, als man vielleicht vermutet hätte. Das ist ein Film, der Seidl-Kennern vertraute Elemente bietet, zugleich aber auch einen poetischen Schritt zur Seite macht. Statt sein Publikum nur aus der Reserve zu locken, zieht er es auch in einen Grenzbereich zwischen Verzweiflung und billigem Trost. Das hat viel mit der Hauptfigur zu tun, dem von Michael Thomas mit Inbrunst verkörperten Richie Bravo. Der verdingt sich hauptsächlich als Schlagersänger in Urlaubshotels und Clubs in Italien. Manchmal erweist der Schnulzenkönig den Damen unter seinen ergrauten Fans noch andere Dienste. Beides vollführt er mit einer Hingabe, die den tristen Rahmenbedingungen trotzt.

The Upcoming

Das winterliche Rimini ist neben Richie der zweite entscheidende Protagonist des Films. Der menschenleere Urlaubsort an der Adria ist eine stimmungsvolle Nachsaisonhölle, die perfekt zum abgenutzten Charme dieses Mannes passt. Die Bilder von Wolfgang Thaler zeigen eine nebelverhangene Gespensterwelt, in der sich ein kleiner Rest Leben regt. Auslöser von Richies Krise wird seine Tochter, die er zuletzt als Kind gesehen hat und die nun Ansprüche stellt. Richie versucht, zu Geld zu kommen, und stürzt dabei doch immer wieder in nächtliche Eskapaden ab. Sein Bußgang hat eine lächerliche, aber auch eine überraschend erhebende, ja bewegende Seite, die aus dem Seidl’schen Universum noch etwas Neues herausholt.

Rimini war als ein längerer Film über zwei Brüder geplant. Seidl entschied sich kurzfristig dazu, daraus zwei separate Arbeiten zu machen. Der 2017 verstorbene Hans-Michael Rehberg verkörpert in seiner letzten Rolle den Vater, ein Verbindungsglied: einen in Kriegserinnerungen verfangenen Greis, den Richie mitunter besucht. Ungeheuer traurig, ja überwältigend ist ein Bild am Schluss des Films, in dem sich seine Verzweiflung zeigt.

Überspannte Frauen

Man darf gespannt sein, wie M. Night Shyamalan, der US-indische Genrespezialist (The Sixth Sense) und diesjährige Jurypräsident, auf solche heimischen Grenzgänge reagiert. Gefallen könnte ihm La Ligne von der Westschweizer Regisseurin Ursula Meier, die wie er selbst gerne soziale Versuchsanordnungen inszeniert. In Home (2008) erzählte sie von einer Familie, die sich vor einem Autobahnbau abschottet. Nun geht es um einen heillos überspannten Mutter-Töchter-Verbund. Stéphanie Blanchoud spielt die extrem jähzornige Margaret, die in der ersten Slow-Motion-Szene ihre Mutter Christina (Valeria Bruni-Tedeschi) krankenhausreif schlägt.

Die Folge: Es wird ein gerichtlicher Bannkreis von hundert Metern verfügt. Das funktioniert jedoch deshalb nicht, weil sich Margaret besonders ihrer jüngeren Schwester sehr nahe fühlt. Meier übersetzt die Idee der Trennung wörtlich, es wird eine Linie um das Haus gezogen, was laufend Kalamitäten provoziert. Der Film ist wendig wie eine Achterbahn und changiert auf bezwingende Weise zwischen affektgeladenem Gefühlsdrama und einer Farce. Vor allem Bruni-Tedeschi ist als egozentrische, weinerliche Mutter zum Brüllen.

In der Forum-Sektion feierte unterdessen Constantin Wulffs Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien Premiere. Es ist nach Into the World (2008) ein weiteres Institutionenporträt des Dokumentaristen, der die Arbeit der Kammer, von den Gesprächen mit Klientinnen und Klienten bis zur Managementebene, in vielen Detailansichten veranschaulicht. Ist schon diese Innenansicht spannend, so erhält der Film ungefähr ab der Mitte durch den Ausbruch der Pandemie noch zusätzliche Dringlichkeit. Plötzlich ist das Gebäude völlig leer, dann tragen alle Masken.

Augenscheinlich wird dabei nicht nur, wie die Koordination dieser Krise alles andere zu überlagern beginnt, sondern wie sich darunter noch weitere auftun – der Skandal über die gefälschten FFP2-Masken drückt sich etwa auch in Arbeitsbedingungen aus. Wie gewährt man weiter Hilfestellung, wie kommt man an Menschen heran, deren Arbeit im Homeoffice entgrenzt wird? Akuter und aktueller kann ein Film kaum sein. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 12.2.2022)