Jetzt gelte es, die vor drei Jahrzehnten auf Malta beschworenen "ideologischen Konfrontationen" einzudämmen, sagt der ehemalige EU-Parlamentarier und Journalist Eugen Freund im Gastkommentar.

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Die bedrohliche Situation um die Ukraine wirft immer wieder die Frage nach den "Einflusssphären" auf: Während der Westen heute darauf besteht, dass sich jeder sowjetische Nachfolgestaat in Europa aussuchen können soll, wohin er sich orientiert, will Russland die Nato nicht zu nahe an seine Grenzen ziehen lassen. Haben die USA schon vor dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion entsprechende Zusagen dafür gegeben? Ein Blick auf den Gipfel in Malta vom Dezember 1989 lohnt sich.

Malta, 1989

Mich hat sie auch fast vom Sessel geworfen, diese Explosion. Michail Gorbatschow und George H. W. Bush sitzen nebeneinander, die beiden Dolmetscher leicht versetzt hinter ihnen. Davor eine Unmenge an Journalisten. Alles läuft geregelt ab. Plötzlich gibt es diesen lauten Knall: Die Sicherheitsleute hantieren aufgeregt an den faltbaren Schutzschirmen, die sie im Notfall über die Staatsmänner werfen können. Doch schnell stellt sich heraus: Nur ein Scheinwerfer eines TV-Teams war zerborsten. Gorbatschow ruft schlagfertig in den Saal: "Ein Salut für uns!"

Wir waren Zeugen eines Tauwetters, wie man es sich zwischen den beiden großen Rivalen, den USA und der Sowjetunion, nur wenige Jahre zuvor nicht hatte vorstellen können: Vor allem Gorbatschow als neuer starker Mann des Ostens hatte mit Perestroika und Glasnost seinem Riesenreich einen neuen Stempel aufgedrückt.

"Es liegt weder an den USA noch an der Sowjetunion, das künftige Schicksal der Europäer oder irgendwelcher anderer Völker zu bestimmen."
George H. W. Bush 1989 auf dem Malta-Gipfel

Für unsere Generation, die mit dem "Gleichgewicht des Schreckens" groß geworden war, war das alles noch ein wenig irritierend. Schließlich hatte Ronald Reagan nur wenige Jahre zuvor den Kommunismus – und damit meinte er vor allem den sowjetischen – auf den Misthaufen der Geschichte werfen wollen. Doch auch Reagan erwies sich schließlich als flexibel: Er hatte sich bereits zwei Mal mit Gorbatschow getroffen und weitreichende Abrüstungsabkommen vereinbart. Dann ging es Schlag auf Schlag: Fast ungläubig stehen wir im November 1989 neben der Berliner Mauer, die immer größere Löcher bekommt und schließlich zusammenkracht.

Reagans Nachfolger Bush nutzte die Gelegenheit, um weitere Vereinbarungen mit Moskau zu treffen. Einen knappen Monat später kamen die Führer der beiden Weltmächte vor der Mittelmeerinsel Malta neuerlich zusammen. Unter großen Schwierigkeiten: Es stürmte so stark, dass die extra herbeigebrachten Kriegsschiffe als Tagungsort unbrauchbar wurden. Doch wer theoretisch in der Lage ist, den jeweiligen Gegner mithilfe eines unvorstellbaren Waffenarsenals mehrfach auszulöschen, überwindet auch dieses Hindernis. Und so notierte ich mir bei der abschließenden Pressekonferenz die Aussage des US-Präsidenten, die heute so nicht mehr fallen würde: "Wir haben in vielen Bereichen Fortschritte erzielt, aber es liegt weder an den USA noch an der Sowjetunion, das künftige Schicksal der Europäer oder irgendwelcher anderer Völker zu bestimmen."

Positiver Blickwinkel

Viel blieb davon nicht übrig. Natürlich bestimmen die USA das Schicksal der Europäerinnen und Europäer, nicht zuletzt, weil die EU nicht in der Lage ist, eine starke, selbstbewusste, uniforme Außenpolitik oder gar Verteidigungspolitik zustande zu bringen. Bestes Beispiel: der Jugoslawienkrieg, der uns ohne das Eingreifen der US-Amerikaner vor unlösbare Aufgaben gestellt hätte. Auch bei Syrien haben wir versagt, und im Fall der Ukraine stehen wir jetzt wieder hilf- und tatenlos da. Und doch war Malta nicht Jalta, wo Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin ganz selbstverständlich die Machtverteilung in Europa nach 1945 festlegten.

"Western values" – westliche Werte – sind quasi die Codeworte, die die US-Amerikaner auf dem Gipfel in Malta so inflationär verwendeten. Das ergibt sich aus Protokollen des russischen Staatsarchivs, in denen die Aussagen auf dem Gipfel minutiös festgehalten wurden. Bush erklärt den Standpunkt der USA so: "Wir sind für die Selbstbestimmung (der Länder). Ich möchte, dass Sie (gemeint war Gorbatschow, Anm.) unseren Zugang in einem positiven Blickwinkel interpretieren: Westliche Wertvorstellungen sollen keineswegs heißen, dass unser System in Rumänien, die Tschechoslowakei oder gar die DDR eindringt."

Östliche, südliche Werte

Dem damaligen US-Außenminister James Baker, ebenfalls am Tisch anwesend, geht das offensichtlich zu weit. Er wirft ein: "Wir stimmen überein, dass jedes Land das Recht auf freie Wahlen haben muss. Doch das geht nur, wenn die Menschen auch tatsächlich frei wählen (choose, Anm.) können. Das fällt auch unter das Konzept der ‚westlichen Werte‘ und bedeutet keineswegs, dem anderen etwas aufzuoktroyieren." Heute wissen wir, dass genau das eingetreten ist: Rumänien, die Tschechische Republik, die Slowakei und die Bundesrepublik Deutschland sind alle Nato-Mitgliedsstaaten geworden, mit genau diesen "westlichen Wertvorstellungen". Ob aufoktroyiert oder nicht, ist Interpretationssache.

Zu diesen Schritten kam es jedoch praktisch zeitgleich mit der Amtstätigkeit von Wladimir Putin. Weder Gorbatschow noch sein Nachfolger Boris Jelzin mussten sich den Kopf darüber zerbrechen, was es für Russland bedeutet, wenn die früheren Verbündeten zum langjährigen Gegner überlaufen. Umgekehrt zeigten die Beispiele Armenien, Georgien und Bergkarabach und vor allem die Ukraine, dass Russland nicht zimperlich ist, wenn es darum geht, seine Interessen zu verfolgen. Doch zurück zum Protokoll.

"Es gibt keinen Grund, jetzt einen Propagandakrieg zu beginnen."
Michail Gorbatschow 1989 in Malta

Gorbatschow meldet sich zu Wort: "A. N. Jakowlew (Politbüro-Mitglied, Anm.) fragt: Warum sind Demokratie, Öffnung, (freie) Marktwirtschaft 'westliche Werte'?" Bush: "Das war nicht immer so. Sie selbst haben die Türe für diese Veränderungen in Richtung Demokratie und Offenheit aufgestoßen. Heute ist das viel deutlicher als, sagen wir, vor 20 Jahren, dass wir diese Werte mit Ihnen teilen." Gorbatschow: "Es gibt keinen Grund, jetzt einen Propagandakrieg zu beginnen." Jakowlew: "Wenn Sie auf 'westlichen Werten' bestehen, dann kommen auch unvermeidlich 'östliche Werte' oder 'südliche Werte' aufs Tapet."

Gorbatschow: "Genau, und wenn das passiert, flammen wieder ideologische Konfrontationen auf." So betrachtet, hatte Gorbatschow Weitsicht. Jetzt gilt es, die auf Malta vor drei Jahrzehnten beschworenen "ideologischen Konfrontationen" so einzudämmen, dass daraus nicht Schlimmeres wird. (Eugen Freund, 13.2.2022)