Karl Nehammer hat einen Berg an Problemen geerbt

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Ein "Lernender" wolle er sein, sagte Karl Nehammer in seinen Antrittsinterviews als Bundeskanzler. Zu lernen gab es seither jedenfalls viel, zumindest für die Öffentlichkeit: zu dem Thema, wie die ÖVP im Innenministerium Posten verteilte, aber auch zu der bevorzugten Behandlung von Unternehmern im Finanzministerium. Außerdem sah man, dass Landeshauptleute gern Dinge kritisieren, die sie zuvor selbst verlangt und mitverhandelt haben – der Stoff war aber eher eine Wiederholung als neu.

Angenehm ist die derzeitige Lage für den Kanzler – und noch mehr für den ÖVP-Chef – Karl Nehammer nicht. Eine Umfrage im Kurier zeigte, dass nur ein Prozent der Befragten die Volkspartei für "weniger korrupt" als andere Parteien hält. Beinahe im Stundentakt dringen peinliche und brisante Chats an die Öffentlichkeit. Die Landeshauptleute murren immer mehr über die Grünen, sehen eine wild gewordene Justiz, eine verkorkste Impfpflicht und in Infrastrukturministerin Leonore Gewessler einen "Elefant im Porzellanladen", wie Markus Wallner aus Vorarlberg tönte.

Beschuldigte Partei

Die Volkspartei hat mehrere Probleme, die eng miteinander zusammenhängen. Als Damoklesschwert schweben zuvorderst die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen über der Partei, die ja selbst als Verband Beschuldigte ist. Die Vorwürfe – teils alt, teils neu – sind heikel: Es geht um verschwenderischen Umgang mit Steuergeld für parteipolitische Zwecke, um Medienkorruption und krumme Deals mit wohlgesinnten Unternehmern. Die Liste beschuldigter (Ex-)Spitzenpolitiker und ihrer Mitarbeiterschaft ist unglaublich lang, sie reicht von Altkanzler Sebastian Kurz über Ex-Finanzminister Gernot Blümel bis hin zu einstigen Kabinettschefs; für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.

Mit seinem "Glamour", wie es ein Landeshauptmann nennt, konnte Kurz die Probleme in der ÖVP übertünchen. Unter dem früheren Kanzler war alles sehr schick und modern, auch wenn manche mittlerweile von Potemkin’schen Dörfern sprechen. Ein gutes Beispiel dafür ist Think Austria, die von Consulterin Antonella Mei-Pochtler geleitete Denkfabrik im Kanzleramt, bei der sich kluge Köpfe über die Zukunft Österreichs austauschen sollten.Im Beirat wurde Prominenz wie der damalige Wirecard-Chef Markus Braun (mittlerweile in U-Haft), der einstige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und Runtastic-Gründer Florian Gschwandtner versammelt. Diese Woche löste Nehammer die Denkfabrik auf. Erhalten bleiben ein paar Arbeitspapiere, etwa zur "Neuen Arbeitswelt". Empfehlungen daraus: "Digitalisierung differenziert beschleunigen", "Fachkräfte systematisch anziehen" und "Vereinbarkeit gemeinsam stärken". Außerdem hatte Think Austria den "Kofi Annan Award for Innovation in Africa" ins Leben gerufen.

Wie viel der Thinktank dann wirklich dazu beigetragen hat, "Österreich konsequent zum lebenswertesten, innovativsten und lernfähigsten Land im Herzen Europas weiterzuentwickeln", wie es in seiner Zielsetzung hieß, bleibt unklar.

Postenkorruption

Derartige Initiativen durchziehen aber die Ära Kurz. Andere Parteien kritisieren das als "Amerikanisierung" der hiesigen Politik: Parteispender und wohlgesinnte Köpfe aus Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur würden mit prestigeträchtigen Posten belohnt werden. Das ist aber nur der eine Teil an Postenkorruption, der die ÖVP vor sich hertreibt. Der andere ist das Fördern parteinaher Beamten in der Verwaltung. Besonders erhellend sind hier Chats aus dem Smartphone des langjährigen Innenministeriums-Spitzenbeamten Michael Kloibmüller. Sie zeigen, wie bis auf Ministerebene für "richtige" Kandidaten gekämpft wurde. Dass das alles Schnee von gestern sei, weil die Chats aus den Jahren 2016 bis 2017 stammten, wurde Anfang Februar durch eine Personalentscheidung eindrucksvoll widerlegt.

Stephan Tauschitz, lange Jahre Klubobmann der Kärntner ÖVP, wurde zum Chef des Kärntner Landesamts für Verfassungsschutz (LVT) bestellt – obwohl er zwei Mal beim rechtsextremen Ulrichsbergstreffen aufgetreten war. Nach massiver Kritik ruderte die Landespolizeidirektion Kärnten zurück und teilte Tauschitz vorübergehend anderswo zu.

"Ihr Hintern gehört ins Kanzleramt"

Elf Tage hatte es gedauert, bis im Fall Tauschitz reagiert wurde. Kanzler Nehammer weilte derweil seit Montag mit seiner Familie,der Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner sowie Verteidigungsministerin Klaudia Tanner in einem Skiresort. Das brachte sogar die Krone in Wallung, hatte sich Nehammer doch erst vor zwei Monaten beim Skiurlaub ablichten lassen. "Ihr Hintern gehört ins Kanzleramt. Und sonst nirgendwohin", schimpfte Kolumnist Michael Jeannèe.

Nicht nur das zeigt, dass die ÖVP die Medienorgel nicht mehr so gut spielen kann wie gewohnt. Neue Öffnungsschritte in der Pandemie werden überraschend während einer wichtigen Pressekonferenz zum Gewaltschutz per E-Mail ausgeschickt; der Kanzler lässt sich persönlich von SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch auf Twitter provozieren.

Wie soll die ÖVP da wieder rauskommen? Die Lehre aus dem letzten U-Ausschuss ist klar: Die Opposition, aber vor allem die Justiz niederzumachen hat sich als Bumerang erwiesen. Dieses Mal will die Volkspartei ruhig den Beweis führen, dass sie sich in ihrem Handeln von den anderen Parteien nicht unterscheidet. Dieser "Whataboutism" war zwar schon seit jeher Teil der Strategie, soll nun aber zum zentralen Argument werden. Kommunikatorische Unterstützung hat sich die Partei dafür aus Deutschland geholt, in Form des ehemaligen Bild-Journalisten und Vize-Regierungssprechers Georg Streiter. Er soll den Ton angeben, die alte "Kurz-Partei" rund um Berater Stefan Steiner soll sich ihm unterordnen.

Kampf um die Macht

Doch ob das so einfach klappt, ist fraglich. Im Hintergrund schwelt in der ÖVP ein Kampf mehrerer Gruppen: Das "Team Kurz", das teils in den Parlamentsklub verschoben wurde, war schon immer der Ansicht, dass Angriff die beste Verteidigung sei. Dazu kommt, dass nun auch auf Rache für die Demontage von Kurz gesinnt wird. Das zeigte das Herausspielen geheimer Nebenabsprachen mit den Grünen. Geht es nach dieser Clique, sollte der Koalitionspartner zermürbt werden und am Ende als Schuldiger für alle Fehler in der Corona-Pandemie dastehen. Dann gelte es, rasch neu zu wählen und das Justizministerium zurückzuerobern, um wieder mehr Zugriff auf die Ermittlungen zu erhalten.

Der engste Kreis rund um Nehammer dürfte das anders sehen. Hier soll es erst einmal "Augen zu und durch" heißen. Bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2024 sei die aktuelle Aufregung vergessen und die Pandemie im Idealfall längst überwunden. Nehammer stünde dann für Stabilität und Ruhe.

Die Landeshauptleute dürften sich irgendwo dazwischen einreihen. Spätestens nächstes Jahr wird in drei schwarzen Machtbastionen gewählt: in Tirol, Niederösterreich und Salzburg. Wird der Frust der Bevölkerung bezüglich Impfpflicht, Corona-Maßnahmen oder Korruption zu groß, könnten die Landeshauptleute Neuwahlen im Bund als "Wellenbrecher" verlangen. Der Ärger solle sich dann an der Bundes-ÖVP entladen, von der man sich selbst gut abgrenzen könne.

In welche Richtung es geht, lässt sich derzeit schwer abschätzen. Anzeichen für Neuwahlen gibt es; etwa die Absicherung von Kabinettsmitarbeitern auf Ministeriumsplanstellen. Gleichzeitig ist die Opposition motiviert wie kaum zuvor, angefeuert durch Chat-Zitate vom "roten Gsindel" oder ÖVP-Kabinettsmitarbeitern als "Hure der Reichen". Viel Zeit bleibt Nehammer also nicht, um aus dem Lernen auch Lehren zu ziehen. (Fabian Schmid, 13.2.2022)