Jan-Werner Müller, Professor für Politik an der Princeton University, rät im Gastkommentar der Sozialdemokratie, sich nicht an Rechts-außen-Parteien zu orientieren.

Einige wenige Siege von Mitte-links-Parteien in großen Ländern lassen kaum auf einen internationalen Trend schließen. Dennoch deuten die Siege der US-Demokraten im Jahr 2020 und der deutschen Sozialdemokraten (SPD) 2021 – ganz zu schweigen vom starken Abschneiden der Sozialisten bei den jüngsten Wahlen in Portugal – darauf hin, dass die vieldiskutierte Krise der Sozialdemokratie nicht so schwerwiegend ist.

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Die linke Mitte muss Stimmen von der extremen Rechten zurückgewinnen?
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Nach Ansicht einiger Mitte-links-Strategen erfordert die politische Erneuerung eine Abkehr von allem, was nach Identitätspolitik riecht. Die Tatsache, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem Wahlkampfthema "Respekt" Erfolg hatte, soll dies beweisen. Die Implikation scheint zu sein, dass die "Arbeiterklasse" mehr Anerkennung verdient als die immer selbstbewusster auftretenden Minderheiten. Und aus dieser Prämisse ergibt sich ein weiteres Argument: Die linke Mitte muss Stimmen von der extremen Rechten zurückgewinnen, nicht nur durch eine Neuausrichtung auf grundlegende Alltagsprobleme, sondern auch durch Zugeständnisse an nationalistische und migrationsfeindliche Stimmungen.

Aber diese Prämisse ist falsch, sowohl empirisch als auch moralisch. Parteien, die eine solche Strategie verfolgen, werden nicht nur daran scheitern, künftige Mehrheiten zu sichern; sie werden auch die Kernwerte verraten, für die die linke Mitte steht und die von jüngeren Wählerinnen und Wählern besonders ernst genommen werden.

Schieres Glück

Der Triumph von Scholz schien dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel recht zu geben, der 2016 warnte: "Wer die Arbeiter im Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien nicht helfen." Scholz nahm auch den Rat des Harvard-Politikphilosophen Michael Sandel an, der die linke Mitte dazu auffordert, ihre Fixierung auf die Leistungsgesellschaft aufzugeben.

Damit ist gemeint, dass die politischen Führerinnen und Führer aufhören sollten, den durch die Globalisierung Abgehängten zu sagen, dass ihr Scheitern ihre eigene Schuld ist, oder herablassend zu sagen, dass sie nur weiterziehen und "programmieren lernen" müssen. Die Hochqualifizierten sollten anerkennen, dass ihr Erfolg oft das Ergebnis bestehender Privilegien und schieren Glücks ist und dass die weniger Gebildeten mehr Respekt verdienen.

Von Brahmanen und Kaufleuten

Dieser Ansatz deckt sich gut mit den Erkenntnissen des Wirtschaftswissenschafters Thomas Piketty. Er argumentiert, dass der politische Wettbewerb in den westlichen Parteiensystemen heute hauptsächlich zwischen zwei verschiedenen Eliten ausgetragen wird: der "Brahmanen-Linken" (hoch gebildete "Wissensarbeitende") und der "Kaufmanns-Rechten" (Wirtschaftsführer und wohlhabende Spender, die konservative Parteien und Anliegen unterstützen). Die Arbeiterklasse ist in dieser Darstellung nicht zu finden.

Viele Beobachter behaupten überzeugt, dass Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich ignoriert fühlen, unweigerlich zu einer rechtsextremen Wählerschaft werden – manchmal auch als "Arbeiterparteien 2.0" bezeichnet. Die Lektion für die linke Mitte ist also, dass sie sowohl postneoliberal als auch postmeritokratisch werden sollte, indem sie gelegentlich taktische Zugeständnisse an Arbeiterinnen und Arbeiter mit autoritären und migrationsfeindlichen Einstellungen macht.

"Der archetypische weiße, männliche Stahlarbeiter ist schon lange nicht mehr repräsentativ."

Doch wie die Sozialwissenschafter Tarik Abou-Chadi, Reto Mitteregger und Cas Mudde zeigen, sind die Annahmen, die dieser verführerisch einfachen Formel zugrunde liegen, falsch. Schließlich hat es schon immer autoritär orientierte Arbeiterinnen und Arbeiter gegeben, und sie haben selten, wenn überhaupt, für Mitte-links-Parteien gestimmt – nicht einmal während der Blütezeit der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Arbeiterklasse war nie homogen, sie ist im Laufe der Zeit sogar noch vielfältiger geworden. Der archetypische weiße, männliche Stahlarbeiter ist schon lange nicht mehr repräsentativ für diese breitere Bevölkerungsschicht. Die Mehrheit der Beschäftigten im Dienstleistungssektor ist weiblich, und ein erheblicher Anteil von ihnen ist farbig.

Noch auffälliger ist jedoch, dass Abou-Chadi, Mitteregger und Mudde darauf hinweisen, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse in Westeuropa der Migration nicht ablehnend gegenübersteht.

Boden verloren

Obwohl die extreme Rechte in den letzten Jahren bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser abgeschnitten hat – und damit über ihre traditionelle Wählerschaft von Kleinunternehmerinnen und -unternehmern sowie Selbstständigen hinausgeht –, verfügt sie bei westeuropäischen Wahlen immer noch nur über einen Anteil von etwa 15 Prozent der Arbeitnehmerstimmen. Abou-Chadi, Mitteregger und Mudde zufolge hat die extreme Rechte bei den Wählerinnen und Wählern mit niedrigem Bildungsniveau, die früher die konservativen Mainstreamparteien unterstützten oder überhaupt nicht zur Wahl gingen, viel besser abgeschnitten.

Es stimmt, dass Mitte-links-Parteien in den letzten Jahrzehnten in vielen Demokratien an Boden verloren haben. Aber die Hauptnutznießer sind die Mitte-rechts- und die grünen Parteien, und es sind die Hochgebildeten, die eher den Arbeiterparteien abtrünnig werden. Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung im Westen immer gebildeter und – allmählich – aufgeschlossener wird, ist es keine Erfolgsstrategie, an einen apokryphen weißen Mann zu appellieren, der sich an woken Neoliberalen stört.

Jüngere Wählerschaft

Außerdem ist es ein Irrtum zu glauben, dass es bei Politik entweder um die Anerkennung der Würde der Menschen oder um materielle Umverteilung geht. Und es ist abwegig zu glauben, dass es früher in der Politik nur darum ging, zwischen Gruppen mit konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen rationale Kompromisse zu finden. Die Sozialistinnen und Sozialisten der alten Schule setzten sich nicht nur für höhere Löhne ein, sie kämpften auch für die Anerkennung der Würde der arbeitenden Menschen.

Kritikerinnen und Kritiker der Identitätspolitik behaupten, sie führe zu einer neuen Form des Feudalismus, bei der das Gemeinwesen in "diskrete Untergruppen" aufgeteilt wird. Und doch geht es bei ihren Standardbeispielen für Identitätspolitik – Black Lives Matter, #MeToo – nicht wirklich darum, die Gesellschaft in Gruppen aufzuteilen, deren gelebte Erfahrung für die Mitglieder anderer Gruppen völlig unklar ist. Schließlich liegt die Betonung auf der Verteilung: Rechte, die viele Bürgerinnen und Bürger für selbstverständlich halten – wie etwa nicht von der Polizei erschossen oder von Mächtigen vergewaltigt zu werden –, müssen für alle gewährleistet sein. Junge Menschen sind heute sensibler für diese Herausforderungen, und es sind die jüngeren Jahrgänge, nicht die älteren, bei denen die Sozialdemokraten in den letzten Jahren schlecht abgeschnitten haben.

(K)ein Kulturkrieg

Scholz’ Beratern zufolge konnte er sich durchsetzen, indem er darauf bestand, dass niemand als "bedauernswert" angesehen werden sollte – der inzwischen verrufene Begriff, mit dem Hillary Clinton 2016 die Anhängerinnen und Anhänger von Donald Trump bezeichnete. Es stimmt, dass gleicher Respekt ein grundlegendes Element der Demokratie ist. Aber das bedeutet nicht, dass rechtsextreme Menschen – die selbsternannten Vertreter der "Bedauernswerten" – recht haben, wenn sie andeuten, dass hochgebildete Fachleute die meiste Zeit über die Chancenlosen spotten. Auf alle zuzugehen ist eine Sache; Politik als Kulturkrieg zwischen weniger gebildeten Menschen und vermeintlich verächtlichen Eliten darzustellen ist eine völlig andere Sache.

Die SPD hat keine Wählerinnen und Wähler von der extremen Rechten "zurückgewonnen", weil sich ihre Wählerinnen und Wähler nie massenhaft in diese Richtung bewegt hatten. Wenn die Mitte-links-Parteien Zugeständnisse an die extreme Rechte machen, verprellen sie nur die aktuellen und zukünftigen Bevölkerungsgruppen, die sie gewinnen müssen. (Jan-Werner Müller, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 14.2.2022)