Die eindrucksvolle Bühne wird für Johannes (Markus Butter) zur mystischen Zwischenwelt.

Foto: Werner Kmetitsch

Dauert das Leben kaum länger als einen Augenblick? Mit zunehmendem Alter neigt man zu dieser Sichtweise. So scheint es eine plausible Idee, Ouvertüre und Finale einer Existenz in einem Bühnenstück zu verschmelzen. Normalerweise interessieren im Musiktheater ja mehr die romantischen, tragischen oder dramatischen Achterbahnfahrten dazwischen. Hier aber gibt es nur Geburt und Tod, nur Morgen und Abend, wie die Oper von Georg Friedrich Haas heißt, die am Samstag in Graz ihre österreichische Erstaufführung erlebte.

Im ersten Teil wird dem Fischer Olai nach langem Warten von seiner Frau ein Sohn geboren, er nennt ihn Johannes. Diesen Johannes erlebt man im zweiten Teil als sterbenden alten Mann. Erinnerungen an seine verstorbene Frau Erna und seine Tochter Signe begleiten ihn ins Jenseits. Es ist eine eindrucksvolle Welt, die Regisseur Immo Karaman mit seinem Team nun für die 2015 in London uraufgeführte Oper erschaffen hat. Geröll bedeckt den Boden eines riesigen gestrandeten Schiffsrumpfs, Nebelschwaden evozieren mystische Zwischenwelten. In einer Art Erregungslähmung sowie in räumlicher Distanz erwartet hier Olai (Cornelius Obonya in einer Sprechrolle) die Niederkunft seiner Frau.

Kreatürliche Intensität

Aus den Proszeniumslogen ballern nicht die Kanonen, sondern die großen Trommeln los, bald vagabundiert ein Quintklang durch die Instrumentengruppen. Gleißende, sich permanent verbiegende Klangflächen der Streicher bringen die Dinge in Schräglage. Obonya steigert sich kunstfertig in Richtung Übergeschnapptheit. Die Geburt ist bei Haas ein dystopischer Zustand, mit kreatürlicher Intensität schreit sich Obonya an die Spitze des orchestralen Grauens. Zum Auftritt der Amme erlaubt sich der 68-jährige Komponist dann einige Minuten der tonalen Rekreation; Eintrübungen von Dur nach Moll folgen in inflationärer, akzelerierender Art.

Überhaupt übertreibt es Haas dann und wann mit der vorherhörbaren, ermüdenden Variation etablierter Muster. Opernhaft ist die Musik von Morgen und Abend in ihrer Verführungskraft des Effekts, ihrer raumgreifenden Art. Über den Text bügelt sie oft drüber. Schade, denn Jon Fosse – Hans Landesmann hat ihn Haas seinerzeit empfohlen – hat aus seinem gleichnamigen Roman von 2001 ein Libretto mit schön schlichten Lebensweisheiten (und monologisierender Schlagseite) geformt.

Zum Glück bringt die Regie im zweiten Teil die Dinge zum Abheben. Erst schwebt das wandlose Haus des Fischers herbei und bald wieder davon, dann multipliziert sich die verstorbene Gattin Erna. Kurz sieht man mehrere Zeitebenen aus dem Leben des Johannes synchron. Zusammen mit Rifail Ajdarpasic (Bühne), Daniel Weiss (Licht) und Fabian Posca (Kostüme) kreiert Karaman stimmungsstarke Traumwelten der Transzendenz. Her mit dem Preis für die beste Musiktheaterinszenierung!

Schimpfend in den Tod

Markus Butter singt und schimpft sich als Johannes mit kraftvoll-noblem Ton in seinen Tod, im Piano erinnert das Timbre des Baritons an jenes von Tenor Jonas Kaufmann. Matthias Koziorowski, der als Peter seinen Freund Johannes ins Jenseits geleitet, weckt mit seiner klaren Helligkeit Anklänge an einen seiner prominenten Vorgänger in Graz, Heinz Zednik. Haas gönnt dem Peter sogar einen kurzen Buffo-Moment, man glaubt es nicht. Und die von Fosse stiefmütterlich behandelten Frauenfiguren? Cathrin Lange berührt (als Hebamme und als Signe) mit ihrem weichen Sopran, Christina Baader als Erna eine Stimmlage darunter ebenso. Die Grazer Philharmoniker kennen die Paarung Fosse/Haas vielleicht noch von der Oper Melancholia (2008) und haben Morgen und Abend unter der Leitung von Roland Kluttig vor dem eher spärlich erschienenen Premierenpublikum auch überzeugend drauf.

Was erwartet uns also nach dem Tod? Fosse zufolge eine wortlose Welt ohne Angst und Schmerz, in der nur die anzutreffen sind, die wir lieben. Wer’s glaubt, wird selig. Wichtiger wäre es wohl, das Leben davor intensiv zu genießen. Denn es dauert kaum einen Augenblick. (Stefan Ender, 13.2.2022)