In den Lernbüros arbeiten Schüler und Schülerinnen mit Unterstützung von Lehrpersonen individuell an Aufgaben.

Foto: Mathis Fotografie

Jeden Freitag um elf Uhr tagt der Klassenrat der Da Vincis, wie sich die Klasse der Neun- bis Elfjährigen im zweiten Stock der Schule am See nennt. Dann bleiben die Türen zu. Auf die Frage, ob man mitlauschen kann, wird kurzerhand abgestimmt, ehe die Schülerinnen und Schüler dem STANDARD Zutritt gewähren. 17 Kinder und zwei Lehrerinnen haben sich im Sitzkreis versammelt, ein Schüler protokolliert die Sitzung. Auf der heutigen Agenda: die Toiletten. Seit kurzem machen sich Unbekannte einen Spaß daraus, diese üppig mit Toilettenpapier zu drapieren. "Eine Kloliste" könnte den Toilettentäter überführen, meint eine Schülerin. Oder gemeinsame Klogänge?

Das nächste Thema folgt: Eine Schülerin merkt an, dass die Deutschschularbeit am Vortag gut gelaufen sei. Dass die Klasse mit der Zeit zurechtgekommen ist, fiel einem Jungen positiv auf. "Ihr habt wirklich toll mitgearbeitet", ergänzt die Lehrerin. "Sonst nichts mehr?", fragt der junge Protokollführer. Die Toiletten kommen auf die Liste für nächste Woche – da müsse einfach jeder drauf schauen.

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Künstliche Zäsur

Dass die Stimmung der Da Vincis im Vorarlberger Hard an diesem Freitag, kurz vor Beginn der Semesterferien im Westen Österreichs, ausgelassen ist, mag verwundern: Eigentlich steht ihre Altersklasse mit dem Übergang von der Volksschule in die Sekundarstufe I vor der ersten großen Zäsur ihrer Schullaufbahn. Eine Zäsur, die österreichweit nervöse Eltern und verunsicherte Schulkinder vor eine Frage stellt: Wohin nach der Volksschule?

Nachhilfe, Scheinwohnsitze, Bestechungsversuche: Getrieben von der Angst, eine Mittelschule könnte den geschmiedeten Bildungsplänen im Weg stehen, ist manchen Eltern jedes Mittel recht, um den Nachwuchs in einer AHS-Unterstufe unterzubringen, wie DER STANDARD bereits berichtete. Dieser Run auf Gymnasialplätze und die Hektik der aktuellen Anmeldephase, die Direktoren mancherorts verzweifeln lassen, sind der Harder Schule fremd. Was macht die Schule am See anders?

Antworten darauf finden sich in den Klassen Galileo, Da Vinci und Fibonacci: "Hier sind wir in einem der Cluster" erklärt Ulla Riedmann, die Volksschulleiterin, am Ende eines lichtdurchfluteten Gangs. Diese drei Klassen sind aber nicht in Quarantäne, der Begriff meint den Zusammenschluss dreier Klassen. "Diese Cluster sind kleine Schulen innerhalb der großen", erklärt Riedmann. Und von diesen "kleinen Schulen" gibt es in Summe neun mit maximal 75 Schülerinnen und Schülern. Was das Besondere an diesen Clustern ist: Drinnen sitzen Kinder unterschiedlichen Alters.

Alter spielt keine Rolle

An der gemeinsam geführten Volks- und Mittelschule sollen Ältere von Jüngeren lernen und vice versa, erläutert Riedmann den Kerngedanken dieser Mehrstufigkeit. In der Praxis sind Kinder der Schulstufen 1 bis 3, 4 bis 6 sowie 7 und 8 in diesen Minischulen gebündelt. Und durch die Durchmischung der Schulstufen 4 bis 6 fällt die künstliche Trennung zwischen Volks- und Mittelschule natürlich weg. Das Herzstück, ergänzt Mittelschuldirektor Christian Grabher, seien dabei die Lernbüros, die jeden Tag zwischen drei und sechs Stunden der Schulzeit ausmachen. Wenn Lehrerinnen gerade nicht "Input-Vorträge" in Hauptfächern geben, arbeiten Schülerinnen und Schüler individuell an Deutsch-, Mathe-, oder Englischaufgaben. "Aber nicht nur", sagt Riedmann. Sie dienen auch als freie Arbeitsphase, in denen die Kinder selbst entscheiden, an was sie weiterarbeiten.

Ergänzt wird das durch Schwerpunkte etwa aus Naturwissenschaften, die die Lehrerinnenteams konzipieren. Als Beispiel führt Riedmann das Thema "Wasser ist Leben" an, das verschiedene Materien wie Biologie, Geografie und Ethik vereint. Der Ansatz, fächerübergreifend das große Ganze zu sehen, ermögliche die Jahrgangsdurchmischung, sagt Riedmann. Für Rückfragen steht in den Lernbüros mindestens eine Lehrperson bereit.

Pause im Freiraum

Wie das in der Praxis klappt, verrät der Lokalaugenschein bei den Da Vincis. Frida und Nina beackern im großen Raum, der als Dreh- und Angelpunkt des A2-Clusters dient, eine Liste mit Vorarlberger Traditionen. Drei Burschen hantieren im Klassenraum mit Geodreiecken. Aufgaben selber einzuteilen mache ihm Spaß, sagt Damiano, der sich mit seinem Freund Matteo auf den angrenzenden Balkon zum Seilhüpfen zurückgezogen hat. Die Elfjährigen bräuchten eine kurze Pause von der FFP2-Maske; die Lehrerin willigt ein. Auch Matteo kann dem "Freiraum", wie sie es nennen, etwas abgewinnen. Sein Bruder war bereits an dieser Schule, darum habe ihn seine Mama ebenfalls hier angemeldet. Zu stören scheint es ihn nicht. Seine Freunde, die andere Schulen besuchen, berichten ihm von Stress und wöchentlichen Schularbeiten: "Hier macht die Schule Spaß", sagte Matteo.

In der Pause können sich die Schülerinnen und Schüler auf den Balkonen austoben.
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Dass die Schule einen Freifahrtschein in Sachen Leistungserbringung ausstellt, stellt ihre Lehrerin Ruth Ender-Burger freilich in Abrede. "Natürlich brauchen die Kinder Deadlines und Ansagen – aber in ihrem Rahmen. Nur blödla goht natürlich net", sagt die Mathe-Lehrerin. Daher erstelle sie mit ihnen "Schlachtpläne" und "Lernzielbücher", an denen sich die Schüler orientieren können, sagt sie und zückt eines. "Da hast du aber noch nicht viel gemacht?", schmunzelt Ender-Burger und zeigt die leere Deutschseite der Buchbesitzerin, "aber du kannst das ja."

Kontrolle am Monatsende

Um zu überprüfen, ob die Inhalte sitzen, wird am Monatsende kontrolliert. "Nicht für die Note, sondern um zu sehen, was sie bereits können" – und folglich nicht wiederholen müssen. Statt Ziffernzeugnissen erhalten die Kinder bis zu sechsten Schulstufe Feedback. Würde es diese pädagogischen Konzepte nicht geben, "ich hätte der Schule schon längst den Rücken gekehrt", sagt Lehrerin Ender-Burger.

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20 Jahre ist es her, als erstmalig das jahrgangsübergreifende Lernen erprobt wurde; damals noch in einzelnen Volksschulklassen, die im 300 Meter entfernten Gebäude angesiedelt waren. Als sich abzeichnete, dass die 14.000-Einwohner-Gemeinde ein neues Schulgebäude benötigen würde, ergriff das Team rund um Direktor Grabher die Chance: Pädagogische Konzepte wurden entworfen und dem Gemeinderat vorgestellt. "Die Kooperation mit der Gemeinde war großartig", resümiert Grabher den Entstehungsprozess – auch skeptische Stimmen lenkten ein. Dabei spielte vor allem die räumliche Gestaltung eine große Rolle: Im Rahmen eines Architekturwettbewerbs erhielt ein Dornbirner Architekturbüro den Zuschlag, das das fünfteilige, lichtdurchlässige und mit viel Außenfläche bestückte Gebäude entwarf. Seit dreieinhalb Jahren gehen dort nun 650 Schülerinnen und Schüler ein uns aus; 42 Millionen Euro ließ es sich die Gemeinde kosten – das größte Infrastrukturprojekt in der Geschichte Hards.

Der Weg der gemeinsamen Schule abseits des lehrerzentrierten Lernens überzeugte im vergangenen Herbst auch eine bundesweite Jury: Sie verlieh der Schule am See den vom Bildungsministerium und von der Innovationsstiftung für Bildung vergebenen "Staatspreis für innovative Schulen".

Rückenwind für "gemeinsame Schule"

Ein Erfolg, der den Weg für die gemeinsame Schule ebnen könnte? Vorarlberg hatte sich 2015 eigentlich zum Ziel gesetzt, die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen bis 2025 einzuführen. Martin Netzer, Generalsekretär im Bildungsministerium, erklärte das Projekt im März 2021 allerdings für beendet. Netzer habe nur darauf hinweisen wollen, dass noch kein konkreter Zeitplan zur Einrichtung vorgestellt wurde", heißt es auf STANDARD-Nachfrage, das differenzierte Schulsystem werde aber befürwortet. Vorarlbergs SPÖ, Neos und Grüne wollen die Modellregion nun zurück auf die politische Agenda holen.

Welche Vorteile die gemeinsame Schule bietet, zeigt sich für Grabher in der Harder Schule: "Der Stress fällt weg", sagt er, "die Schülerinnen wissen, dass sie mit 14 immer noch alles tun können." Eine konkrete Vorstellung hat auch Matteo, der es seinem Bruder erneut gleichtun will: "Er ist jetzt im Sportgymnasium, ich will danach auch dorthin. (Elisa Tomaselli, 14.2.2022)