Für einen Moment erwartet man, dass einem gleich Leihskier gereicht werden. Alles hier erinnert ans Skifahren. Vor den beschlagenen Schaufenstern ist Ruka zu erahnen, in den 1950er-Jahren aus dem Boden gestampft, allein für den Wintersport. Hinter dem Tiefgaragenzugang in Pagodenform, den Après-Ski-Karaokebars und Hotelblocks fliegen Skifahrer im Salto über Schanzen. 800 Kilometer nordöstlich von Helsinki liegt dieses größte Skigebiet Finnlands.

Arktische Abenteuer

Für Mitteleuropäer wäre es verrückt, zum Skifahren herzukommen. Aber die meisten sind ohnehin angereist, um die Natur zu erkunden oder arktische Abenteuer zu buchen: Huskyschlittenfahren, Rentierausflüge, Schneemobiltouren, Eisklettern. Oder in eiskalten Flüssen zu schweben. Deswegen bekommen wir jetzt statt Skiern oder Snowboards Adventure-Equipment verpasst und werden hinausgefahren aus der Welt der Lifte und Pisten.

Spitzhacken müssen Finnland-Urlauber nicht mitnehmen. Eislöcher zum Baden werden mit speziellen Pumpen offen gehalten.
Foto: Visit Finland

Zwanzig Minuten später müht sich im Scheinwerferlicht eines Lieferwagens eine kleine Gruppe Touristen mit Isolieranzügen, Schwimmwesten, Helmen, Stirnlampen und Neoprenhandschuhen ab. Das alles muss irgendwie an den Körper, der bereits in einem Schneeanzug steckt, denn keiner will später eisiges Wasser auf der Haut.

Rund um den Parkplatz einer Fernstraße hier am südlichen Rand von Lappland existiert nur noch Schwarz-Weiß – schwarze Nacht und weißer Schnee. Hinter den Bäumen muss sich ein schwarzes Band entlangziehen, der Fluss. Und da hinein geht es, sobald wir uns in Schalen geworfen haben, zum River-Floating.

Dick eingemummt

So dick eingemummt watscheln alle wie Pinguine hintereinander durch den Wald, stapfen durch tiefen Schnee unter dick verschneiten Ästen am Ufer entlang zum Einstiegspunkt. Es ist vor 17 Uhr, doch schon längst dunkle Nacht in Kuusamo.

Noch drei bis fünf Stunden Helligkeit hat die Gegend jetzt zu bieten. Manche sagen, das hier sei Lappland, denn es klingt so gut fürs Marketing. Tatsächlich macht jedoch genau hier im äußersten Osten des Landes die Grenze zur nördlichsten Region einen fiesen Schlenker nach oben, spart Kuusamo aus.

Touristen lassen sich aber oft lieber dick verpackt in isolierenden Anzügen im Eiswasser treiben.
Foto: Visit Finland

Eisplatten brechen am Ufer ab, als wir in den Fluss steigen. Man spürt die Kälte und den Druck des Wassers auf die Beine und seine Kraft, wenn es an der obersten Schicht zerrt. Weiter hinein sollen wir, uns dann gegen die Strömung zurücklehnen und die Fußsohlen in Fließrichtung strecken. Das Ergebnis: Wie Baumstämme treiben wir auf dem Kitkajoki, der hier an der Stromschnelle Kiveskoski einen guten Speed hat.

Doch wie soll man lenken? Irgendwie mit den Beinen rudern. Die Hände bleiben besser auf dem Bauch, denn in die Handschuhe kann Wasser laufen. Man hat schon Mühe, dass man Linie hält und nicht die Wasserstraße hinunterkreiselt. Vor allem sollte man den Kopf nicht zu sehr zur Seite drehen, denn rund ums Gesicht und am Hals kann auch Wasser reinschwappen.

Die Stirnlampe rutscht, das ist nicht gut, denn keiner könnte mich sehen und wieder rausfischen, wäre sie nicht mehr auf meinem Kopf. Egal. Wir sollen uns entspannen und genießen, hieß es. Der Blick geht in den Himmel, endet aber an den angestrahlten kleinen Flöckchen. Perfekterweise wären da jetzt kein Schnee und keine Wolken, dafür Nordlichter. Grüne Schlieren im Himmel, magische Zeichen. Doch die lassen sich halt nicht bestellen.

Yoga mit Staubzucker

Knapp unterm Gipfel des Rukatunturi, auf 430 Meter Höhe, ist Piritta Liikka gerade mit ihrer Yogastunde fertig, die sie regelmäßig gibt. Ein paar Einheimische kommen plaudernd die Treppe herunter, gehen zu ihren Autos und fahren ins Tal.

Alles rundum ist dicht weiß bestäubt, als wäre einem Konditor der Staubzucker ausgekommen: die Umlenkrollen der Skilifte, die Baumstämme, die Häuser, die Leitpfosten. Durch die Feuchtigkeit haftet der Schnee rundum an allem. Die Bäume sehen aus wie seltsam zerschmolzene weiße Kerzen. Tykkylumi nennen die Finnen den Schnee, der ballonartig an den Ästen hängt. Er kann so schwer sein, dass Bäume brechen.

Die Kaltwasserkur regt die Durchblutung an, stärkt das Immunsystem und soll Endorphine ausschütten, also extrem gesund sein.
Foto: Visit Finland

"Die Natur hat immer mehr Kraft, je weiter man nach Norden kommt", findet Piritta, 49, kurze Haare, leuchtende Augen. Es war ein grauer, regnerischer Tag im Stau in Helsinki vor fast zwanzig Jahren, als sie beschloss, aus dem Süden des Landes hierherzuziehen, High Heels und gemachte Nägel gegen Outdoorklamotten zu tauschen. Bereut hat sie es nie. Praktisch, dass ihr die Kälte so gar nichts ausmacht.

Wenn sie nicht gerade Gäste mit auf Schneeschuhtouren und zum Langlauf nimmt oder Freiluft-Yoga in einer Rentierherde anbietet, taucht sie ganz privat in Eislöcher. Also ohne Isolieranzug, versteht sich. "Es fühlt sich ja auch warm an, wenn die Luft 25 Grad minus hat und das Wasser zwei Grad plus." Mehrmals die Woche macht sie das. Gern würde sie es noch öfter tun, hätte der See, an dem sie wohnt, ein Eisloch.

Kaltwasserkur

Das Eisbaden ist nicht nur Pirittas persönliches Faible, es hat Tradition. Da keiner Lust hat, mit der Spitzhacke loszuziehen, gibt es präparierte Eislöcher, die eine Pumpe offenhält und die man kombiniert mit Sauna für ein paar Euro nutzen kann. "Wir Locals treffen da unsere Freunde." Die Kaltwasserkur regt die Durchblutung an, stärkt das Immunsystem und soll Endorphine ausschütten, also extrem gesund sein. Bei Piritta funktioniert es. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal krank gewesen wäre.

Aufwärmen kann man sich gemeinsam in der Sauna, die in Finnland weitgehend ohne spießiges Regelwerk auskommt.
Foto: Visit Finland

Vierzig Kilometer östlich von Ruka und nur noch zwei Kilometer von der russischen Grenze entfernt lockt Katja Vira in den Heikijärvi-See. Unsere Stricksocken frieren bei jedem Schritt am Holzsteg fest – Antirutschsicherung und Wärmegarant in einem. Jede Faser des Körpers lobt diese geniale Idee, auf Socken von der Sauna zum Eisloch zu eilen. Katja bietet die Saunatour zusammen mit ihrer Schwester Sirpa an, die das Isokenkäisten Klubi, den Familienbetrieb ihrer Eltern mit Restaurant und Hotel, weiterführt.

Gerade wurde die Rauchsauna angeheizt, die in Finnland schon seit 2.000 Jahren Tradition hat und stundenlang mit einem Holzfeuer auf Temperatur gebracht werden muss. Da ein Kamin bewusst fehlt, sammelt sich aller Rauch im Raum. Erst kurz vor dem Benutzen wird er über Klappen hinausgelassen, sonst wäre ein Saunagang toxisch. Trotzdem riecht es in der Sauna wie in einer Räucherkammer, die Wände sind trotz des vielen Putzens dunkel.

Keine Pflicht

Doch jetzt müssen die Stricksocken von den Füßen und die Saunagäste die Leiter hinunter. Pflicht ist das natürlich nicht. Man könnte sich zum Abkühlen auch in den Schnee werfen oder einfach auf der Veranda rumstehen und ein Saunawürstchen essen. "Regeln gibt es in der finnischen Sauna nicht", bestätigt Katja.

Schüchterne japanische Touristen schickt sie schon einmal im Bademantel zum Schwitzen. Die Stufen sind dick und rund vor Eis, also maximal rutschig. Die Socken wären jetzt großartig. Zumindest ist der Saunahut noch auf dem Kopf, sodass die Haare nicht zu Eiszapfen werden. Also nicht lange fackeln, und rein ins schwarze Wasser.

Eisschwimmen wird in Finnland so häufig praktiziert, dass es eigens dafür vorbereitete Eislöcher gibt.
Foto: Visit Finland

Wichtig ist jetzt: ruhig atmen, denn der Körper wird automatisch in Alarmzustand versetzt. Die Füße spüren den Boden. Man könnte jetzt einfach stehen bleiben und stoisch dem Impuls trotzen, gleich wieder zur Leiter zu greifen. Doch vielleicht lenkt man sich auch besser ab? Mit ein paar Schwimmzügen zum hinteren Ende des Lochs?

Mentale Stärke

Doch nach dem ersten werden die Bewegungen schwer, als würde die Kälte alles dickflüssiger machen, vielleicht wie ein Dieselfahrzeug, das keinen Winterdiesel getankt hat. Die Atmung droht zu verkrampfen. Jetzt heißt es mentale Stärke beweisen, ruhig atmen, nicht nach Luft schnappen. Erfahrene Winterschwimmer würden jetzt noch drinbleiben, aber fürs erste Mal bin ich zufrieden und ziehe mich an der Leiter hoch.

Was mir wie eine Ewigkeit vorkam, waren wohl kaum zehn Sekunden. Und obwohl es draußen noch kälter ist als im Wasser, wird einem plötzlich von innen warm. Wie eine Belohnung. Der Körper hat über die Widrigkeiten des Klimas gesiegt. Vielleicht ist das die mentale Einstellung, die es in diesen Breitengraden braucht. Dann kann man auch getrost auf Isolieranzüge verzichten. (Anja Martin, RONDO, 17.2.2022)