Bild nicht mehr verfügbar.

Deborah Hartmann ist seit 2020 Leiterin der Einrichtung "Haus der Wannsee-Konferenz": Hier organisierten NS-Chargen 1942 die Vernichtung der europäischen Juden.

Foto: Riedl/dpa/picturedesk.com

Junge Leute würden sich heute viel stärker trauen, mit "älteren Narrativen" zu brechen: Deborah Hartmann, seit 2020 Leiterin des "Hauses der Wannsee-Konferenz" in Berlin, konstatiert ein reges Interesse an der Erinnerungskultur. Geschult durch ihre Mitarbeit am israelischen Gedenkort Yad Vashem, bringt die gebürtige Wienerin wenig Verständnis für Versuche auf, die Verbrechen der Shoah zu relativieren.

STANDARD: Welchen Eindruck hat Matti Geschonnecks kürzlich gezeigte Neuverfilmung des Konferenzprotokolls vom Wannsee auf Sie gemacht?

Hartmann: Bei dem Film handelt es sich um eine künstlerische Bearbeitung von Geschichte. Ich hatte meine Arbeit im Haus der Wannsee-Konferenz soeben aufgenommen, als die Dreharbeiten begannen. Vertreter unserer Institution haben das Drehbuch gelesen, haben Anregungen gegeben und Anmerkungen gemacht. Der Film leistet keine Rekonstruktion, sondern stellt den Versuch dar, etwas Charakteristisches über die Shoah anhand der Wannsee-Konferenz zu erzählen. Wir können gar nicht wissen, was auf dieser Konferenz wortwörtlich besprochen worden ist. Beim Protokoll handelt es sich ja gerade nicht um ein Wortprotokoll, sondern um ein sprachlich sorgfältig redigiertes Papier. Insgesamt halte ich den Film an vielen Punkten für gelungen.

STANDARD: Der Historiker A. Dirk Moses hat den Deutschen vorgeworfen, das Wissen um die Einzigartigkeit der Shoah als "Katechismus" zu betrachten. Der Blick auf andere Formen von kolonialer und genozidaler Gewalt würde mutwillig verstellt. Machen es sich die Deutschen zu leicht?

Hartmann: Ich halte die Debatte für irritierend. Es werden in ihr keine Neuigkeiten diskutiert. Die Frage lautet: In welchem Kontext stehen die Verbrechen des Nationalsozialismus im Verhältnis zu anderen Gewaltverbrechen?

STANDARD: Handelt es sich um die Wiederkehr des Historikerstreits aus den 1980ern?

Hartmann: Solche Streitigkeiten gab es schon davor, wenn Sie beispielsweise an Texte von Jean Améry denken. In Jenseits von Schuld und Sühne (1966) findet sich jene Passage, in der er die Befürchtung mitteilt, alles drohe unterschiedslos in einem einzigen Jahrhundert der Barbarei aufzugehen. Alles würde in einen Topf geworfen, miteinander vermengt. Befremdlich an der derzeitigen Debatte ist, dass die Erinnerung an die Shoah neuerdings wieder in Zweifel gezogen wird. Man kennt das normalerweise von rechts, jetzt passiert es aus anderer Richtung. Begriffe wie "Katechismus", wie "Hohepriester der Erinnerung" lassen sich schwerlich als Beiträge auffassen, die Konstruktives zur Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur leisten. Ich vermute dahinter eine Form der Abwehr.

STANDARD: Welcher Art?

Hartmann: Ich kann den Standpunkt nicht nachvollziehen, dass die Erinnerung an die Shoah einen sakralen Status besitze oder andere Erinnerungen verdränge. Natürlich kann ritualisiertes Erinnern ein Problem darstellen. Zugleich ignoriert die Debatte geflissentlich, dass die Erinnerung an den Holocaust mühsam erkämpft wurde, in Österreich, aber auch in Deutschland. Es dauerte, bis Überlebende und Betroffene endlich als Autoritäten ihrer eigenen Geschichte anerkannt wurden. Diese Perspektive fehlt aktuell vollkommen. Ich finde das umso bedauerlicher, als an dieser Stelle Allianzen hergestellt werden könnten, zwischen den Betroffenen damals und Menschen, die heute um Anerkennung ihrer Geschichte kämpfen. So wie die Debatte derzeit zum Teil geführt wird, werden Betroffene gegeneinander ausgespielt.

STANDARD: Sie wenden sich gegen unproduktive Vergleiche.

Hartmann: Natürlich kann und muss man genozidale Verbrechen miteinander vergleichen. Das bedeutet aber nicht, Hierarchisierungen vorzunehmen. Darum zielt auch die Debatte um den Begriff "Singularität" an der Sache vorbei. Ich beziehe mich eher auf Yehuda Bauers Begriff der "Präzedenzlosigkeit". Sagen wir, etwas ist singulär, so hat es einmal in der Geschichte stattgefunden und kann nicht wieder passieren. Damit wird jede Beschäftigung hinfällig. Bauers Begriff ist da viel klarer.

STANDARD: Auf der anderen Seite hat Eva Menasse kürzlich in der "Zeit" sehr vehement die Zimperlichkeit mancher Deutscher im Umgang mit Israel, mit seiner Siedlungspolitik et cetera, beklagt. Waren Sie erstaunt?

Hartmann: Ich persönlich habe den Eindruck, dass Eva Menasse zu viele Aspekte miteinander vermengt. Sie unterscheidet nicht weiter zwischen politischen Entscheidungen wie dem Bundestagsbeschluss, Initiativen von Fachleuten wie der Studie über Berliner Straßennamen und zivilgesellschaftlichen Aktionen gegen die Documenta. Jede Kritik an Antisemitismus scheint bei ihr undifferenziert und unbegründet zu sein. Damit bildet ihr Beitrag aber einen Teil genau jener Debatte, die den Grad der Undifferenziertheit immer beim anderen sucht. Auch wenn sie sich vor allem mit der deutschen Debatte beschäftigt, zeigt sich diese Undifferenziertheit, indem sie von "der" palästinensischen Zivilbevölkerung schreibt, von "den" jüdischen Siedlern, die jeden Tag Gewaltverbrechen an Palästinensern verüben. Solche Verallgemeinerungen sind Teil des Problems. Es macht einen großen Unterschied, ob man die israelische Politik als Teil der dortigen Gesellschaft mit dem Ziel, in Israel andere Mehrheiten und Allianzen herzustellen, kritisiert oder eine Kampagne wie BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt und das Land von außerhalb kritisiert.

STANDARD: An anderer Stelle hatten Sie angemerkt, dass in Österreich ein Dokumentationsarchiv zur österreichischen Beteiligung am Holocaust fehle. Das rief Kritik hervor.

Hartmann: Mit diesem Hinweis wollte ich nicht die verdienstvolle Arbeit von Institutionen wie dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes infrage stellen. Meine Kritik zielte auf etwas anderes. Wir sehen, dass gerade auch unter den Regierungen Kurz ein beinahe ausschließlicher Fokus auf die in der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden ins Zentrum der Politik gerückt wurde. Man gedenkt der Ermordeten, redet aber nicht über gesellschaftliche Kontinuitäten, heutige Formen des Antisemitismus in allen politischen Lagern, über Strukturen von Täterschaft. Mir ging es um die pädagogische Auseinandersetzung mit diesen Aspekten. In diesem Zusammenhang fehlt ein Lern- oder Geschichtsort in Österreich an einem "Täter"-Ort. (Ronald Pohl, 15.2.2022)