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Satellitenbilder zeigen den russischen Truppenaufmarsch nahe der Ukraine, hier bei der Stadt Jelna.

Foto: Planet Labs PBC via AP

Welche Indizien für einen russischen Einmarsch sprechen

Was plant Wladimir Putin wirklich? Kann die zwischen Russland und dem Westen schwelende Krise diplomatisch beigelegt werden? Oder steht ein Angriff Russlands auf die Ukraine mit all seinen unkalkulierbaren Folgen unmittelbar bevor? Seit vielen Wochen sind das die zentralen Fragen der internationalen Politik. Für zusätzliche Beunruhigung im Westen sorgt dabei der Umstand, dass man nicht abschätzen kann, wer alles in Russland sich dieselben Fragen stellt. Zählt vielleicht sogar der engste Führungszirkel rund um Kremlchef Putin dazu? Und ultimativ zugespitzt: Kennt Putin selbst die Antworten?

Es ist diese Unberechenbarkeit des russischen Präsidenten, die eher pessimistischen Prognosen Nahrung verleiht. Die Überlegung: Wer weit mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht, wer politischen Forderungen mit lautem Säbelrasseln Nachdruck verleiht, der könnte sich am Ende selbst in eine Sackgasse manövrieren, aus der er keinen gewaltlosen Ausweg mehr sieht.

Angst vor Gesichtsverlust

Der Schlüsselbegriff dabei ist drohender Gesichtsverlust. Hintergrund: Russland hat die Welt Mitte Dezember mit öffentlichen Forderungen an die USA und die Nato überrascht. Einige davon galten als von vornherein unerfüllbar – etwa die Zusage, dass die Ukraine niemals Nato-Mitglied werden dürfe. Dies widerspricht aus westlicher Sicht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Viele fürchten nun, dass Russland sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hat und jede Kompromisslösung als Zeichen eigener Schwäche wahrnehmen würde.

Dass Moskau darauf beharrt, keine Drohungen ausgesprochen zu haben und auch weiterhin kein militärisches Eingreifen in der Ukraine zu planen, trägt nicht wirklich zur Beruhigung bei. Viele verweisen auf die Annexion der Krim im Jahr 2014: Damals hatte der Kreml die eigene Rolle zu Beginn heruntergespielt, ritt dann aber durchaus auf der Welle des neuerlich aufflammenden Patriotismus.

Auch Aufforderungen, die Ukraine zu verlassen, nähren die Angst vor Kämpfen. Das Außenministerium in Washington etwa hatte bereits vorige Woche den Abzug eines Großteils der Mitarbeiter der Kiewer US-Botschaft angekündigt. Am Samstag legte Außenminister Antony Blinken noch einmal nach und begründete den Schritt mit der angeblich unmittelbaren Gefahr einer russischen Militäraktion. Vom Abzug betroffen waren zudem US-Mitglieder der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die seit dem bereits 2014 ausgebrochenen Krieg im Donbass ein Monitoring der Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen durchführt. Andere OSZE-Staaten haben sich ebenfalls zum Abzug ihrer Beobachterinnen und Beobachter entschlossen.

Zumal man davon ausgehen muss, dass Staaten solche Entscheidungen vor allem auf Basis von Geheimdienstinformationen treffen, wird das Säbelrasseln dadurch lauter wahrgenommen, als es den offiziellen Kanälen der Regierungskommunikation in den einzelnen Ländern entspricht. Dass USA und Nato zudem angekündigt haben, bei einem russischen Angriff auf die Ukraine nur mit Sanktionen, nicht aber militärisch antworten zu wollen, mag zwar die Angst vor einer weltweiten Eskalation des Konflikts mildern, befeuert aber gleichzeitig die Sorge, Putin könnte dies als freie Bahn für sich selbst interpretieren.

Grund zur Sorge hat aber auch, wer nicht daran glauben will, dass irgendeine Seite an einem Gewaltausbruch interessiert ist: In einer zugespitzten militärischen Situation kann selbst ein unabsichtlicher Zwischenfall schwerwiegende Folgen haben. Die USA bekräftigten zuletzt erneut ihre Sorge, dass es bereits diese Woche zu russischen Maßnahmen kommen könnte.

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Welche Indizien gegen einen russischen Einmarsch sprechen

In strategischen Planspielen mag der Wert von Momentaufnahmen begrenzt sein. Gerade deshalb aber spricht aus Sicht des Kremls einiges dafür, den geopolitischen Augenblick möglichst lange festzuhalten. Russlands Präsident Wladimir Putin nämlich scheint im aktuellen Konflikt mit der Ukraine und dem Westen derzeit die meisten Trümpfe in der Hand zu halten. Für die Durchsetzung Moskauer Interessen ist das ein enormer Hebel – allerdings nur, solange die labile Lage nicht kippt.

Putin hat erreicht, dass er als die entscheidende Schlüsselfigur der internationalen Politik wahrgenommen wird. Staatsgäste geben einander in Moskau die Klinke in die Hand, direkte Gespräche mit seinem US-Amtskollegen Joe Biden gelten beinahe schon als Standardprogramm. Dabei waren bis vor kurzem vor allem die USA und China im Blick, wenn von der Konkurrenz der Weltmächte gesprochen wurde.

Nun ist es Putin innerhalb weniger Wochen gelungen, mit militärischen Muskelspielen, verstärkt durch den ihm eigenen Nimbus der Unberechenbarkeit, im Konzert der globalen Player den Takt anzugeben. Aus dieser Position heraus lassen sich viele Themen aufs Tapet bringen, etwa die ungeliebte Stationierung von US-Waffen in Osteuropa. Greift Russland jedoch tatsächlich zu Gewalt, dann würden die aufgebauten Handlungsoptionen wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.

Dasselbe gilt auch für die Propagandaschlacht, die sich aufspannt zwischen tatsächlicher Kriegsangst und dem, was Moskau westliche "Hysterie" nennt. Russland bestreitet seit Beginn der Krise Pläne für einen Angriff auf die Ukraine und bezichtigt vor allem die USA der Kriegsrhetorik. Moskau argumentiert damit, dass man Truppen ausschließlich auf eigenem Territorium bewege – und im Rahmen von gemeinsamen Übungen auch im befreundeten Belarus. Sollte am Ende ein Verhandlungsweg aus der Krise führen, könnte Putin innenpolitisch weiter die "Kriegshysterie" des Westens ausschlachten. Umgekehrt aber hält sich die Begeisterung der Russinnen und Russen für einen tatsächlichen Krieg mit der Ukraine derzeit in Grenzen – ebenso wie die mediale Einstimmung auf einen solchen.

Zweifelhafter Nutzen

Sogar in der Ukraine selbst ist man bemüht, nicht allzu laut von Kriegsgefahr zu sprechen. Klar, Kiew sitzt in der Zwickmühle: Einerseits drängt man den Westen zu Waffenlieferungen und militärischem Beistand für den Ernstfall, andererseits will man die schwächelnde Wirtschaft nicht gefährden, indem man durch Kriegsstimmung Investoren und Geschäftspartner abschreckt. Und dennoch: In Kiew kennt man den Nachbarn Russland besser als im Westen – und weiß, dass der Sinn einer Eroberung der Ukraine für Moskau zumindest zweifelhaft sein muss.

Das gilt auch für mögliche begrenzte Gebietsgewinne wie etwa eine Annexion der prorussischen "Volksrepubliken" im Donbass. Die marode Infrastruktur dort könnte ebenso ein Klotz an Moskaus Bein sein wie die Tatsache, dass einige der dort "Regierenden" sich mittlerweile in ihrem Machtbereich ganz gut eingerichtet haben.

Zu all dem kommt noch die bisherige Reaktion des Westens. Das Konzert der Europäer und Amerikaner mag vielstimmig und nicht perfekt koordiniert sein. Auch über die konkrete Ausgestaltung von Wirtschaftssanktionen – Stichwort Nord Stream 2 – herrscht nicht immer Einigkeit. Wirklich spalten konnte Putin den Westen bisher aber ebenfalls nicht. Und dass die Sanktionen im Fall eines Angriffs auf die Ukraine tatsächlich schmerzhaft wären, weiß man auch im Kreml sehr genau. (Gerald Schubert, 15.2.2022)