Und wie lange ist das bei Ihnen her? Hand aufs Herz: Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wann ich das letzte Mal "Flaschendrehen" gespielt habe. Und – nochmals Hand aufs Herz – so erotisch prickelnd wie in den Erzählungen (die über die Jahre dann immer glorreicher wurden) war das in meinen Teenagertagen auch nicht: (M)ich erwischte so gut wie immer die Falsche. Oder aber die Zielperson verließ kreischend den Raum. Oder … egal.

Kurz gesagt: Flaschendrehen war zwar in Teenagerkomödien immer, in der Echtwelt aber so gut wie nie ein funktionierender "Schuhlöffel" für amouröse Erkundungen und Abenteuer. Aber öffentlich zugeben würde ich das natürlich nie.

Foto: Tom Rottenberg

Aber tatsächlich ist es bei mir jetzt gerade einmal ein paar Tage her, dass ich mit klopfendem Herzen einer am Boden kreiselnden Flasche zusah – und hoffte, dass sie, wenn schon nicht in einer bestimmten, dann zumindest nicht mit der falschen Ausrichtung haltmacht. Aber das lag weniger daran, dass die Mitspieler eben allesamt Mitspieler waren, sondern an der Aufgabe, die danach kommen würde: Laufen nämlich – und zwar in die vom Flaschenorakel angezeigte Richtung.

Denn genau das ist die Idee eines "Flaschendrehlaufs": Die Flasche sagt, wo es langgeht. Wie weit oder wie lang, macht man sich vorher aus.

Foto: Tom Rottenberg

Im Fall der Spinner, mit denen ich am Samstag vom Hauptbahnhof aus losrannte, war das aber ein ziemliches Brett: Sechs, vielleicht ja auch sechseinhalb Stunden, hatten Peter und Florian angekündigt, würde die Rennerei schon dauern.

Mein "Das ist ein Scherz!" wurde mit einem Lacher quittiert – aber wer die beiden kennt, weiß, was das heißt: Die zwei sagen nicht bloß "sechs Stunden", sie können das auch. Und zwar durchaus auch richtig schnell: Peter (links) und Florian (rechts) gehören zum Team Vegan (Bildmitte: Robert, ein weiteres Teammitglied) – und was die "Sportsektion der Veganen Gesellschaft" draufhat, ist das beste Gegenargument zur Behauptung, dass nur Fleischfresser dauerhaft Leistung bringen können.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Foto: Tom Rottenberg

Denn diesmal ging es darum, Gäste aus Deutschland zu bespaßen. Und denen wollten die beiden Macher des Laufpodcasts "Laufendentdecken" mehr als die Hauptallee bieten.

Zum einen, weil es sich da um Kollegen auf Augenhöhe handelte. Also Läufer, die weder vor laaaaangen Gesprächen noch vor noch längeren Läufen Angst haben – und ganz gerne beides kombinieren: Die Besucher sind allesamt Ultra-erfahrene Langstreckenläufer – und "Dings" aber auch erfahren genug, um das Laufen nicht ausschließlich bierernst zu nehmen, sondern vor allem den Spaß darin zu sehen.

So zeichnen drei von ihnen unter dem gemeinsamen Namen "Max Mockermann" für den deutschen Laufpodcast "Morgenspaziergang" verantwortlich.

Foto: Tom Rottenberg

Einer hat schon Stunts wie den "Goldsteiglauf" – einen 600-Kilometer-Ultra – am Tacho. Ein anderer ist nicht bloß Ultraläufer und Swimrunner, sondern auch Stammhörer von Peter und Florian. Peter hat ihn im Vorjahr in Nürnberg für einen "Backyard-Ultra" besucht.

Backyard Ultra geht so: Man läuft fünf Meilen, wartet, bis die beim Loslaufen begonnene Stunde voll ist – und läuft die nächsten fünf Meilen. Dann wartet man wieder, bis die Stunde voll ist. Sieger ist, wer als Letzter noch eine Fünferrunde schafft. Der Weltrekord liegt bei 85 Runden. Peter lief rund 60 Kilometer.

Ja eh: Das wäre schon wieder eine eigene, ganz andere Geschichte. Aber ich glaube, es beschreibt die Gruppe ganz gut.

Foto: Tom Rottenberg

Das Flaschenorakel war gnädig. Denn wer vom Hauptbahnhof aus in Richtung Nordwesten laufen soll, hat Innenstadt, Donaukanal und – je nachdem, wie präzise man unterwegs sein will – entweder Kahlen-, Leopolds- oder Bisamberg auf dem Plan. Oder man rennt einfach die Donau flussaufwärts.

Doch die Favoritenstraße runter wäre nicht gerade ein megasexy Start. Also fragte ich, ob es okay wäre, die grundlegende Richtung zwar zu befolgen, zu Beginn aber vielleicht doch einen kleinen Haken nach Osten zu schlagen.

Neugierige Blicke – aber niemand widersprach: Päpstlicher als der Papst muss man ja wirklich nicht sein.

Foto: Tom Rottenberg

Und als wir dann beim oberen Belvedere waren, gratulierten wir einander – ja, auch die Einheimischen – dazu, das Unternehmen mit wienerischer Flexibilität angegangen zu sein: Der Canaletto-Blick ist nach wie vor der beste Einstieg in diese Stadt. Und zwar unabhängig davon, wie man sich von da an fortbewegen möchte.

Ich empfehle ja Besucherinnen und Besuchern generell die Strecke des D-Wagens als Wien- und Österreich-Erklärroute: Belvedere, Staatsvertragsbalkon, Russendenkmal, der relevante Teil der Ringstraße. Dann Hundertwasser und Otto Wagner bei der Spittelau, der Karl-Marx-Hof – und zuletzt die Heurigen plus Kahlenberg.

Foto: Tom Rottenberg

Laufend geht das natürlich auch. Eigentlich sogar noch besser. Weil man mehr sieht. Und die Stadt auch spürt. Und wenn man mit einer entspannten, aber routiniert laufenden Partie unterwegs ist, bleibt auch genügend Zeit zum Plaudern. Für Geschichte ebenso wie für Gschichterln – und davon hat Wien ja mehr als genug. Egal ob es um "geheime" Durchgänge durch die Hofburg, die chinesischen Morgensportler vor dem Theseustempel, den Streit um das Zaha-Hadid-Label beim Zaha-Hadid-Haus oder um die Namenswanderung des Kahlenbergs geht.

Würde man da im Wettkampftempo Kilometer sammeln, wäre das Erzählen schwer – aber wer so lange laufen will, hält dabei meist eine entspannte Plauderpace.

Foto: Tom Rottenberg

Und so rollte die (zufällig) reine Männerrunde gemütlich gen Nordwesten. Nach dem Donaukanal ging es über die gelbe Brücke ("Wie, die ist nach einem Wiener Schachgroßmeister benannt, aber ihr nennt sie nie beim Namen? Wissen die Wiener das eventuell gar nicht?") auf die Insel – und weiter flussaufwärts.

Wir nahmen den näher an der Donau liegenden Treppelweg. Nicht nur wegen der feineren Ausblicke auf Fluss und Wienerwald, sondern auch wegen der Rennradler: An so einem sonnigen (wenn auch frischen) Morgen nutzen gerade auf der Insel viele den weniger publikumsintensiven Vormittag für schnelle Ausfahrten. Wenn man da zu neunt läuft und dabei plaudert, ist man relativ rasch ein echtes Hindernis: Ein bisserl Mitdenken bei der Wahl des Weges tut da keinem weh – ganz im Gegenteil.

Foto: Tom Rottenberg

Nach ziemlich genau zwei Stunden schaltete ich dann aber in den Weicheimodus – und bog beim oberen Einlaufwehr flussabwärts ab: Ich war am Vortag eine (für mich) harte, lange Tempowechseleinheit gelaufen. Diese eineinhalb Stunden "Kante" meldeten sich nun: Auch ohne Vorbelastung wäre ich keine sechseinhalb Stunden gelaufen – doch dass ich bis hierher problemlos mithalten konnte, überraschte mich einigermaßen. Positiv. Aber vor allem bewies es mir einmal mehr, wie sehr Gesellschaft und gemeinsames Spaßhaben beim Durchhalten helfen. Mir zumindest.

Foto: Tom Rottenberg

Die laufenden Podcaster führten ihre Freunde aus Bayern und Franken aber schnurstracks weiter: Über Langenzersdorf ging es auf und über den Bisamberg. Dann weiter in Richtung, aber doch rund um Korneuburg. Auf den Besuch der beinahe echt mittelalterlichen Burg Kreuzenstein wollte man natürlich nicht verzichten.

Nicht zuletzt, weil Peter schon auf der "gelben Brücke" auf ein paar Details der am Horizont sichtbaren Burg hingewiesen hatte, die sie als historisierende Attrappe aus dem späten 19. Jahrhundert ausweisen, einen Besuch aber de facto zwingend machen würden.

Foto: Florian Geffers

Danach "hügelte" die Gruppe noch ein wenig durchs Weinviertel. Über den Schafflerhof, das Goldene Bründl und Michlberg ging es zum Gipfelfoto auf den Waschberg (388 m) – und von dort dann über Leitzersdorf nach Stockerau.

Endpunkt der Reise war dann der Stockerauer Bahnhofswürstelstand ("Zwei Mineral, fünf Cola und acht Bier", erinnert sich Peter an die Bestellung), bevor es mit der S-Bahn zurück zum Hauptbahnhof ging.

Foto: Florian Geffers

Und falls irgendjemand Zahlen braucht: Während der insgesamt sechs Stunden und 31 Minuten des Ausflugs war die Gruppe fünf Stunden und 37 Minuten in Bewegung. Dabei legte sie 48 Kilometer zurück – und machte etwa 800 Höhenmeter.

Ich selbst war in zwei Stunden und 45 Minuten exakt 27 Kilometer gelaufen – aber nur in der Ebene. Natürlich ärgerte ich mich dann ein bisserl, früher abgebogen zu sein – trotzdem weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war.

Was ich aber auch weiß: Ich bin mit dem Flaschendrehen versöhnt. Obwohl ich auch diesmal niemanden geküsst habe. (Tom Rottenberg, 15.2.2022)

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Foto: Tom Rottenberg