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Das Notstandsgesetz soll die Trucks aus der kanadischen Hauptstadt verbannen.

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Die Vereinigungen der First Nations Kanadas sprechen sich vor allem gegen den Missbrauch ihrer Kulturgüter – wie Trommeln – aus.

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Indigene schließen sich auch Gegenprotesten gegen die Trucker-Demonstrationen an.

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Nach mehr als zwei Wochen setzt der kanadische Premier Justin Trudeau ein starkes Signal: Seine Regierung rief den öffentlichen Notstand aus, um hart gegen die Trucker durchzugreifen, die seit Tagen die Hauptstadt lahmlegen. Es ist das erste Mal seit mehr als 50 Jahren, dass ein Premierminister zu der Maßnahme greift, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Zuletzt war es Trudeaus Vater Pierre, der während seiner Regierungszeit im Jahr 1970 mit dem Notstand auf eine Terrorkrise in Quebec reagiert hatte.

Nun hat die Regierung in Ottawa vorerst 30 Tage lang verstärkte Rechte, um gegen die Blockade in der Hauptstadt vorzugehen. So können Versammlungen untersagt oder Reisebeschränkungen ausgesprochen werden. Gleichzeitig könnte Trudeau sogar das Militär einsetzen, um die Trucker zu vertreiben. Zu diesem Mittel will der Premierminister aber nicht greifen.

Kritik am Polizeieinsatz

In den vergangenen Tagen wurden Stimmen laut, die kritisiert haben, dass die Regierung und allen voran Trudeau zu langsam und zu lasch gegen die Lkw-Fahrer vorgegangen seien. Die hauptsächlich weißen Männer demonstrieren vordergründig gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung, vor allem gegen die Impfpflicht für Trucker im Grenzverkehr mit die USA. Hunderte, tausende Menschen versammelten sich dafür in den vergangenen beiden Wochen in Ottawa und skandierten rassistische Sprüche, schwenkten Hakenkreuzfahnen oder urinierten auf Denkmäler. Mit Hupkonzerten hielten sie Nachbarschaften nächtelang wach.

Kritiker monierten vor allem, dass die Polizei wohl gegen schwarze oder indigene Protestierende rascher härter durchgegriffen hätte. Erst im September sagten Kriminalfachleute, dass es einen Unterschied im Vorgehen der Behörden gegen einzelne Bevölkerungsgruppen gebe. So gab es immer nur einzelne Festnahmen bei Blockaden von Gesundheitseinrichtungen durch überwiegend weiße Demonstranten. Gleichzeitig wurden allein bei Protesten gegen Altholzabholzung im Süden von Vancouver Island rund 890 Menschen bei Forstwegblockaden verhaftet. Dabei handelte es sich vor allem um indigene Kanadier. Ein Gericht verurteilte bereits das Vorgehen der Polizei gegen die "Fairy-Creek-Protestierenden" als nicht verhältnismäßig.

Indigene äußern sich

Der kanadischen Rundfunk CBC interviewte eine der in Fairy Creek verhafteten Protestierenden. Xʷ is xʷ čaa Kati George-Jim, eine Angehörige der T'Sou-ke, sagte, dass sie sich wünscht, dass "mehr Menschen ihr Privileg verstehen und die Art der weißen Vorherrschaft (white supremacy), die Kanada täglich zeigt".

Neun indigene Senatorinnen und Senatoren haben sich vergangene Woche zusammengeschlossen, um in einem offenen Brief die Trucker-Proteste zu verurteilen. Man unterstütze zwar "jede Art von friedlichem Protest", heißt es darin, doch man stelle sich gegen "Intoleranz, Hass oder Gewalt jeder Art". Auch Vertreterinnen und Vertreter der First Nations haben die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen verurteilt – und dabei vor allem die Verwendung ihres Kulturguts. Videos von Protestierenden, die Tipis aufstellen, indigene Trommeln spielen und den Ritus des Friedenspfeiferauchens vollziehen, zogen Kritik der Indigenen auf sich.

Außerdem wurde bekannt, dass einige Protestierende mit orangen Shirts Schülerinnen und Schüler unter dem Slogan "Every Child Matters" – "Jedes Kind zählt" – dazu bringen wollen, aus den Klassenzimmern zu gehen und die Gesichtsmasken abzunehmen. Eigentlich machen Indigene mit ebenjenen Shirts und ebenjenem Slogan auf den Missbrauch von zahlreichen indigenen Kindern in sogenannten Boarding Schools in Kanada aufmerksam und wollen bewirken, dass nach ihrem Verbleib geforscht wird.

Unverhältnismäßig betroffen

"Unsere Familien und Gemeinschaften haben unersetzliche Verluste durch das furchtbare Virus erlitten, und unsere First Nations Chiefs haben unter anderem die strengsten Maßnahmen ergriffen, um ihre Gemeinschaften zu schützen", heißt es etwa in dem offenen Brief der Föderation von souveränen indigenen Nationen, die 70 First Nations in Saskatchewan vertritt, wo ebenfalls Trucker-Proteste an der Grenze zu den USA stattfinden.

Dass die indigene Bevölkerung unverhältnismäßig stark durch das Coronavirus getroffen wurde, bestätigt auch René Kuppe. Der Wiener Universitätsprofessor ist spezialisiert auf Rechte indigener Völker und forscht seit zwei Jahren zu ihrer Situation im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie.

Die kanadischen Indigenen, die in den Reservaten leben, hatten laut ihm eine 40 Prozent höhere Infektionsrate als der Rest von Kanadas Bevölkerung. Auch ein höheres Todesrisiko herrscht unter den Indigenen vor – dazu trug auch bei, dass die Bevölkerungsgruppe eher an Diabetes, Übergewicht, Asthma und Arthritis leidet sowie schlechteren Zugang zu Sauerstoffgeräten und gesundheitlicher Versorgung prinzipiell hat. Rassismus im Gesundheitssystem ist ein bekanntes kanadisches Problem. Ende 2019 zeigte eine Studie, dass von 2.700 befragten Indigenen 84 Prozent Diskriminierungserfahrungen bei medizinischen Behandlungen gemacht haben. (Bianca Blei, 15.2.2022)