In den meisten Ländern werden die Covid-Einschränkungen gelockert. Auch in Frankreich dürfen ab Mittwoch die Diskotheken nach zweijähriger Unterbrechung wieder öffnen; in Zügen und in Sportstadien dürfen auch wieder Speisen konsumiert werden.

Für viele – auch impfbereite – Franzosen werden die Regeln aber nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil verschärft. Am Dienstag ist die Frist für die zweite Dosis von sieben auf vier Monate verkürzt worden. Diese Änderung erscheint auf den ersten Blick geringfügig. Laut Gesundheitsministerium gilt sie aber für 4,7 Millionen Erwachsene. Um prinzipielle Impfgegner handelt es sich kaum, da die Betroffenen eine erste Dosis akzeptiert haben. Meist waren sie über die Neuerung schlicht nicht auf dem Laufenden gewesen; oder sie hatten sich in der Omikron-Welle über die Festtage angesteckt und müssen nun drei Monate warten, bis sie eine neue Impfung erhalten können.

Entscheidung schon im Jänner

Selbst Impfbefürworter fragen sich, ob die Regierung das allgemeine Regime mildern oder verschärfen will. "Meine Patienten kommen nicht mehr mit", meinte etwa der Elsässer Allgemeinmediziner Patrick Vogt zum Radiosender France Bleu. "Ich sehe den Nutzen der Impfung völlig ein. Aber die Leute verstehen die Welt nicht mehr, wenn ihr Impfpass auf dem Handy automatisch deaktiviert wird."

Bei den freiheitsliebenden Franzosen hat der Impfpass nicht viele Freunde.
Foto: EPA/Langsdon

Die Erklärung für das widersprüchliche Verhalten der Regierung liegt in der Zeitabfolge. Das Parlament hatte den politisch sehr umstrittenen Impfpass – er entspricht in etwa der 2G-Regel – schon im Jänner verabschiedet, als täglich mehrere Hunderttausend Franzosen angesteckt wurden. Die nun gültige Fristverkürzung wurde damals beschlossen.

Seither scheint die Omikron-Spitze aber gebrochen, und die Regierung in Paris beginnt vorsichtig zu lockern. Deshalb dürfen Nachtclubs und Konzertsäle mit stehendem Publikum ab Mittwoch wieder ihren Betrieb aufnehmen. Regierungssprecher Gabriel Attal hat letzte Woche sogar das Ende des Impfpasses für "Ende März oder Anfang April" in Aussicht gestellt.

Ohne Vorwarnung

Umso mehr Franzosen schütteln den Kopf, dass zugleich fast fünf Millionen Menschen ab 18 Jahren ihren Impfpass und damit ihren Zugang zum öffentlichen Leben verlieren. Und das ohne jede Vorwarnung. Dabei kennen nicht alle die Regel, dass nach einer Ansteckung eine dreimonatige Frist bis zu einer neuen Impfung einzuhalten ist.

Das Gesundheitsministerium in Paris erkennt auf Anfrage einen "Engpass". Jetzt lässt sich die Änderung aber nicht mehr rückgängig machen. Die Regierung gerät damit noch stärker unter Druck, nachdem ihr Impfpass schon von Beginn an unpopulär gewesen ist. Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf werfen Kandidaten von links wie rechts Emmanuel Macron vor, er schließe Millionen von Franzosen vom Freizeitleben aus.

Für den Staatschef, der seine Kandidatur zur Wiederwahl in den nächsten Tagen erklären will, kommt der Impfpassärger im dümmsten Moment. Selbst seine Berater meinen, er sei zu weit gegangen, nachdem er schon ohne Umschweife erklärt hatte, er wolle den Ungeimpften "auf den Wecker gehen".

Den Widerstand hat Macron zwar gebrochen: Der "Freiheitskonvoi" vermochte am Wochenende die Hauptstadt Paris entgegen seiner Absicht nicht zu blockieren. Doch der Frust im Land ist groß. Und er könnte sich massiv an den Wahlurnen äußern. (Stefan Brändle aus Paris, 16.2.2022)