Stadt formt Sprache: Varianten im "grantigen" Wien haben durchaus Strahlkraft und werden auch in umliegenden Regionen übernommen.

Foto: Imago / Ralph Peters

Ist der Freitag nach einem Feiertag nun ein "Zwickeltag", ein "Brückentag" oder doch ein "Fenstertag"? Und ein kleines Stück spitzes Holz, das man sich unangenehmerweise unter die Haut geschoben hat – sagt man dazu "Splitter", "Schiefer", "Spreißel" oder "Speil"? An Fragen wie diesen spaltet sich der deutsche Sprachraum in eine Vielzahl von Alltagssprachen.

Nicht nur die verwendeten Bezeichnungen variieren regional, auch Grammatik oder Aussprache. Schließlich ist es für viele Menschen ganz und gar nicht egal, ob etwas in der Zeitung gestanden "ist" oder "hat" oder ob man zu einer von Geländern umfassten Freifläche vor der Hausfassade "Balkon" oder "Balkong" sagt.

Schneller Wandel

Traditionell werden alltagssprachliche Unterschiede dieser Art Dialekten zugeordnet und innerhalb von Dialektgrenzen auf Mitteleuropakarten räumlich verortet. Diese Grenzen sowie die Eigenheiten der verschiedenen Sprechergruppen sind keineswegs in Stein gemeißelt. Eine lebende Sprache ist niemals statisch. Sie entwickelt sich durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren, denen die Sprechenden ausgesetzt sind, weiter.

Sie vereinfacht sich an einer Stelle, wird komplexer an einer anderen, sie übernimmt Varianten von Nachbarsprachen und färbt auf diese ab. Dieser komplexe – und dank moderner Kommunikationsmittel zunehmend schnelle – Wandel stellt Sprachwissenschafter aber vor Herausforderungen. Ein zeitnahes Monitoring, eine Untersuchung der tatsächlichen, aktuellen Sprachverwendung gestaltet sich schwierig.

Aktueller Sprachgebrauch

Einer der Forschungsansätze, die diesen aktuellen Überblick für den gesamten deutschsprachigen Raum schaffen möchten, ist im Fachbereich Germanistik der Paris-Lodron-Universität Salzburg angesiedelt. Stephan Elspaß, Simon Pickl und Konstantin Niehaus setzen hier, unterstützt vom Land Salzburg, das Projekt "Räumliche Muster und Strukturen der regionalen Sprachwirklichkeit im deutschsprachigen Raum", das heuer angelaufen ist, um.

Ein Vorhaben dieser Art steht und fällt mit Umfang und Qualität des Datenmaterials, das zur Auswertung zur Verfügung steht – und das kann sich hier durchaus sehen lassen: Elspaß hat mit seinem Kollegen Robert Möller von der Universität Liège in Belgien bereits 2003 den "Atlas der deutschen Alltagssprache" ins Leben gerufen.

Bei diesem Crowd-Sourcing-Projekt werden im Abstand von ein bis zwei Jahren immer wieder neue Erhebungen durchgeführt, um den aktuellen Sprachgebrauch abzufragen. "Wir haben insgesamt 600 Karten zusammengetragen, die etwa 50.000 Einzelvarianten, die wir von 20.000 Sprechern erhalten haben, an 500 Orten im deutschen Sprachraum verorten", resümiert der Germanist. Eine davon bildet beispielsweise den "Zwickeltag" und seine Pendants ab, eine andere die verschiedenen Bezeichnungen des Holzstücks unter der Haut.

Sprachatlas-Auswertung

Diese Daten gilt es nun auszuwerten und zu einem gesamtheitlichen Bild der Alltagssprachen im deutschsprachigen Raum zusammenzuführen. "Vereinfacht kann man sich das so vorstellen, dass wir die 600 Karten mit der Verbreitung der jeweiligen Sprachvarianten übereinanderlegen, um zu sehen, welche gemeinsamen Strukturen sich herausbilden", sagt Elspaß. Tatsächlich werden natürlich keine Karten auf Transparentpapier gezeichnet und übereinandergelegt, sondern statistische Verfahren angewendet, die die gesammelten Varianten pro Ort mit den jeweiligen Nachbarorten in Zusammenhang bringen.

Im Projekt kooperieren die Germanisten etwa mit Geoinformatikerinnen, um aussagekräftige Aufschlüsselungen der Sprachrealität zu erreichen. "Am Ende soll eine neue Gesamtkarte für die heutige Sprachlandschaft stehen", erklärt Elspaß, der auch am bekannten Nachschlagewerk "dtv-Atlas Deutsche Sprache" mitarbeitet.

Ausbreitungsgebiete der Dialekte

Die Ergebnisse dieser Auswertung können dann wiederum in Zusammenhang mit den Ausbreitungsgebieten der traditionellen Dialekte gebracht werden. "Die gewohnte, heute noch gebräuchliche Einteilung der Dialekte stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts", erklärt Elspaß. "Die traditionellen Ausbreitungsgebiete werden sich wohl auch in den neuen Daten widerspiegeln. Es werden sich aber auch eine Vielzahl kleinräumiger Veränderungen darin abbilden."

Die markante Sprachgrenze, die den Süden des deutschen Sprachraums samt Bayern und Österreich vom Norden abgrenzt – man spricht scherzhaft vom "Weißwurstäquator" –, wird auch in der neuen Auswertung zu finden sein. Genauso werden sich aber auch neue sprachliche Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land, soziale Phänomene wie Überalterung oder Landflucht sowie die berufliche Mobilität und Migration abbilden, ist der Germanist sicher. Auch topografische und politische Gegebenheiten – ein Gebirge, das die Mobilität hemmt, oder Landesgrenzen – werden zu finden sein.

Großräumige Strukturen

"Es ist evident, dass viele regionale Dialekte verschwinden. Kleinräumige Sprachgewohnheiten lösen sich zugunsten großräumiger auf. Zudem spielt die Urbanisierung eine wichtige Rolle im Sprachwandel", gibt Elspaß Beispiele für die bedeutendsten Einflussgeber.

Und natürlich sind Schulstandards und der zunehmende Austausch von Sprachvarianten über Medien weiterhin wichtige Faktoren des Wandels. Letztendlich sollen Analysen, die auf die zuerst durchgeführte Auswertung der Sprachatlasdaten aufbauen, die Entwicklung der deutschen Alltagssprache besser nachvollziehbar machen. (Alois Pumhösel, 19.2.2022)