Der Plan, den politischen Prozess in Libyen zehn Jahre nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis durch Wahlen neu zu starten, ist vorläufig gescheitert. Die im März 2021 unter Uno-Ägide gebildete Übergangsregierung, die den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen Osten und Westen beendete, sollte das Land Ende 2021 in Präsidenten- und Parlamentswahlen führen: Zuerst wurden die Wahlen zur neuen Legislative gekippt, kurz vor dem Termin am 24. Dezember auch jene zur Präsidentschaft. Zunächst wurde auf Ende Jänner verschoben, danach auf Juni. Und nun soll unter dem früheren Innenminister Fathi Bashaga eine neue Regierung gebildet werden, die Wahlen in 14 Monaten anpeilen soll. Also irgendwann.

Libyens vom Parlament in Tobruk abgesetzter Premier rief am Wochenende die ihn unterstützenden Milizen nach Tripolis.
Foto: Mahmud Turkia

Aber auch das ist alles andere als klar: Bashaga wurde am Donnerstag vom in Tobruk (Ostlibyen) ansässigen Parlament mit der Regierungsbildung beauftragt, das zuvor das Mandat von Übergangspremier Abdulhamid Dbeiba und seiner Regierung der Nationalen Einheit mit Ende Dezember für beendet erklärt hatte. Aber Dbeiba, auf den vergangene Woche ein Schussattentat verübt wurde, weigert sich abzutreten, er will vielmehr bis zu Neuwahlen bleiben. Und er mobilisiert seine Anhänger, darunter auch Milizen.

Das weckt schlimme Assoziationen, denn zwei Regierungen – und zwei Parlamente – hatte Libyen auch während der kriegerischen Auseinandersetzung ab 2014 zwischen der international anerkannten Regierung in der Hauptstadt Tripolis und den Kräften von General Khalifa Haftar in Bengazi.

Spaltung in Ost und West

Der Osten hatte eine ebenfalls von der Uno im Dezember 2015 vermittelte Regierung nie anerkannt, deren Einfluss in der Folge auf den Westen, eigentlich nur auf Tripolis, beschränkt blieb. Im April 2019 eröffnete Haftar eine Offensive auf die Hauptstadt, die jedoch scheiterte. Vor einem Jahr wurde dann wieder mithilfe der Uno eine Übergangsexekutive gebildet, die jedoch die geplanten Neuwahlen nicht auf den Weg brachte.

Dbeiba wird neben seinem allgemeinen politischen Versagen – und der Verstrickung eines Teils seiner Regierung in Bereicherung durch die Covid-Krise – vorgeworfen, dass er im Dezember selbst als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen antreten wollte, obwohl er zugesagt hatte, dies nicht zu tun. Andere höchst umstrittene Kandidaten wären Khalifa Haftar und der wegen Kriegsverbrechen gesuchte Gaddafi-Sohn Saif al-Islam gewesen.

Allerdings kommt der Ruf nach Dbeibas Abtritt nicht etwa nur aus dem Osten. Der Konsens, dass er gehen sollte, ist geografisch ziemlich breit gestreut. Es wurde ihm bereits nach seiner Ernennung zum Premier 2021 vorgeworfen, dass er Stimmen in dem von der Uno organisierten Libyan Political Dialogue Forum (LPDF) gekauft hatte. Auch Bashaga hatte sich damals beworben.

Beide, Dbeiba (63) und Bashaga (59), stammen aus Misrata, der Stadt mit den mächtigen Milizen, die beim Sturz Gaddafis eine wichtige Rolle spielten und das Gelingen der Revolution für sich beanspruchen. Beide sind Großunternehmer. In Misrata und in Tripolis gab es nach Bashagas Ernennung Demonstrationen für Dbeiba. Dennoch konnte Bashaga nach seiner Beauftragung am Donnerstag ungehindert in die libysche Hauptstadt reisen, um die Regierungsbildung aufzunehmen.

Quadratur des Kreises

Nun wird mit Spannung erwartet, ob ihm die Quadratur des Kreises gelingt, mit einem Mandat aus dem Osten auch genügend Unterstützung im Westen zu finden. Insgesamt sind die Spaltungen nicht mehr so klar definiert wie früher, und auch die Unterstützer von Ost und West aus dem Ausland haben 2021 ja den Kompromiss gesucht. Die Uno, auf die sich Dbeiba weiterhin beruft, verhielt sich bisher weitgehend neutral.

Immerhin hat es Bashaga bereits geschafft, Haftar und die Seinen in Ostlibyen zu überzeugen, obwohl ihm eine Nähe zu den Muslimbrüdern nachgesagt wird, die für Haftar "Terroristen" sind. Er könnte versuchen, Haftar in die Regierung zu integrieren, am ehesten als Verteidigungsminister – ein Amt, das Dbeiba nicht aus der Hand gab. Er soll auch die Unterstützung Frankreichs haben, das schon zuvor den Positionen Haftars zugeneigt war. Auch Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate, die während des Kriegs wichtige Unterstützer Haftars waren, sind auf Bashagas Seite.

Bleibt noch, die Türkei zu überzeugen: Die Beziehungen Bashagas zu Ankara sind nicht schlecht, als Mann Ankaras gilt jedoch Dbeiba. Allerdings ist auch auf türkischer Seite, die Wirtschaftskontakte zu Ostlibyen sucht, eine neue Flexibilität nicht ausgeschlossen, schreibt Fehim Taştekin auf Al-Monitor.

Erdoğan in Abu Dhabi

Das wird auch dadurch begünstigt, dass sich die in den vergangenen Jahren äußerst angespannten Beziehungen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten (anti Muslimbrüder) und der Türkei (pro Muslimbrüder) in einer Phase der Neudefinition befinden. Am Montag absolvierte Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen fast schon sensationell anmutenden Besuch in Abu Dhabi. In Libyen bekämpften sich die Bürgerkriegsparteien bis vor kurzem mit türkischen (Westen) beziehungsweise mit emiratischen (Osten) Drohnen. Das türkische Eingreifen auf der Seite von Tripolis führte zum Scheitern Haftars. (Gudrun Harrer, 16.2.2022)