Fast 50 Prozent des Maisimportbedarfs deckt die EU durch Lieferungen aus der Ukraine. Insbesondere bei Ölsaaten ist die Abhängigkeit noch größer.

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Zuletzt hat sich die Gefahr neuer, über die Ostukraine hinaus gehender kriegerischer Auseinandersetzungen leicht abgeschwächt; eine Invasion russischer Truppen, die über Wochen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen wurden, ist aber noch nicht vom Tisch. Und solange dieser Schwebezustand anhält, ist jederzeit mit einem mittleren bis schweren Beben auf den internationalen Finanz-, Energie-, aber auch auf den globalen Agrarmärkten zu rechnen.

Die Ukraine war die Kornkammer der früheren Sowjetunion und ist es wegen der extrem fruchtbaren Böden in einem veränderte Kontext immer noch. Experten sind sich einig, dass ein Krieg in der Ukraine die Getreide- und Lebensmittelmärkte erschüttern und die Preise augenblicklich in die Höhe treiben würde. Dabei haben Europas Haushalte ohnehin schon mit hohen Inflationsraten wie seit Jahrzehnten nicht mehr zu kämpfen.

Viertgrößter Lebensmittellieferant der EU

Laut Eurostat ist die Ukraine der viertgrößte Lebensmittellieferant der EU; nur aus Großbritannien, Brasilien und USA werden mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse importiert. Etwa ein Viertel der Getreide- und Pflanzenöleinfuhren in die Union stammen aus der Ukraine, bei Mais ist es fast die Hälfte.

"Unter dem Gesichtspunkt der Lebensmittelsicherheit ist der Konflikt mit der Ukraine ein weiterer wichtiger Grund, warum er vermieden werden sollte," zitiert das Onlineportal Politico den Büroleiter der ukrainischen Wirtschafts- und Handelskammer in Brüssel, Nazar Bobitski. "Ich fürchte, das ist noch nicht im Bewusstsein der Entscheidungsträger in Europa angekommen."

Keine Notfallpläne

Notfallpläne gibt es keine, wie ein EU-Beamter dem Onlineportal bestätigt hat. Ein potenzieller Konflikt sei lediglich auf dem Radar jener Abteilungen, die sich mit Geopolitik und Sicherheit befassen.

Notfallpläne sucht man aber auch in Österreich vergeblich; die direkte Abhängigkeit von agrarischen Importen ist jedenfalls weniger stark als in so manchem anderen EU-Land.

"Es gibt einen nennenswerten Handel bei Agrarprodukten mit der Ukraine, aber keinen übermäßig starken," sagte Landwirtschaftsexperte Franz Sinabell vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) dem STANDARD. Nach letzten vorliegenden Zahlen hat Österreich 2020 agrarische Erzeugnisse im Wert von 73 Millionen Euro aus der Ukraine bezogen. 2021 dürfte es etwas mehr geworden sein – "rund 90 Millionen", wie Sinabell anhand der bisher vorliegenden Daten hochrechnet. Es gehe um Früchte, zubereitetes Gemüse – zumeist um Halbfertigwaren, die in Österreich zu Lebensmitteln weiterverarbeitet werden. Erst mit Inkrafttreten des nach Interventionen Russlands mehrere Male verschobenen Freihandelsabkommens mit der Ukraine sei der Warenstrom Richtung EU "so richtig in die Gänge gekommen," sagt der Wifo-Experte.

Starke Abhängigkeit bei Ölsaaten

Auf den ersten Blick ist die europäische Ernährungssicherheit selbst bei einem Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht in Gefahr. Die EU ist Nettoexporteur bei Lebensmitteln. Die Ukraine macht, wiewohl ein wichtiger Handelspartner, nur 4,9 Prozent der gesamten Agro-Lebensmittelimporte der Union aus. Bei bestimmten Produkten ist Europa allerdings stärker abhängig. So kommen beispielsweise 88 Prozent des in der EU verbrauchten Sonnenblumenöls aus dem Osten. "Das zeigt, dass die Ukraine gerade bei Ölsaaten bedeutende komparative Vorteile hat," sagt Sinabell. Auch 41 Prozent des in der EU verbrauchten Rapses stammen aus der Ukraine sowie 26 Prozent des Honigs.

Sojabohnen liefert die Ukraine bis nach China.
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Da die EU selbst ein großer Lebensmittelproduzent ist, dürfte sie nach allgemeiner Einschätzung in der Lage sein, den unmittelbaren Schock einer möglichen Unterbrechung des bilateralen Handels im Fall eines Krieges zu verkraften. Gröbere Auswirkungen könnte es aber für Länder im Nahen Osten oder im Norden Afrikas geben. Einschränkungen bei der Lebensmittelversorgung und Preissprünge bei Brot waren einige von mehreren wichtigen Faktoren beim Ausbruch des Arabischen Frühlings vor gut einem Jahrzehnt. Ägypten etwa ist ein wichtiger Abnehmer von ukrainischem Getreide. Der Libanon bezieht gar 55 Prozent des Weizens von dort.

Preise ohnehin rekordverdächtig hoch

Dabei sind die Preise agrarischer Produkte jetzt schon hoch. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erreichten die weltweiten Lebensmittelpreise 2021 einen Zehn-Jahres-Rekord. Ein Krieg würde die Lage weiter verschlimmern. Als Russland 2014 die Halbinsel Krim okkupierte und in der Ostukraine einmarschierte, ging der Handel zwar weiter; trotzdem gab es einen massiven Preisschub. Die Weizennotierungen etwa schossen kurzfristig um etwa 20 Prozent in die Höhe. (Günther Strobl, 16.2.2022)