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Polens Verfassungsgericht entschied im Oktober, dass das nationale Grundgesetz über dem Recht der Europäischen Union stehen soll.

Foto: Reuters / Kacper Pempel

Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat dem neu geschaffenen Rechtsstaatsmechanismus am Mittwoch grünes Licht gegeben. Die 2020 von den Staats- und Regierungschefs der EU beschlossene Regelung sieht vor, dass bei Verstößen gegen europäische Grundwerte wie Gewaltenteilung oder Unabhängigkeit der Justiz EU-Gelder gekürzt werden können. Polen und Ungarn, die in diesem Zusammenhang immer wieder im Clinch mit Brüssel liegen, hatten gegen den Mechanismus geklagt.

Die Chancen für die beiden Länder waren bereits im Vorfeld als gering eingestuft worden. Seit Dezember lag ein Gutachten des zuständigen Generalanwalts vor, der dem EuGH empfahl, die Klagen abzuweisen. Bei ihrer Urteilsfindung sind die Richterinnen und Richter zwar nicht an das Gutachten gebunden, in den meisten Fällen allerdings ist die Empfehlung des Generalanwalts richtungsweisend.

Der neue Mechanismus war bereits vor dem Urteil von Mittwoch in Kraft, wurde aber mit Rücksicht auf die beiden Klagen noch nie zur Anwendung gebracht. Er gilt als dritte Schiene, über die die EU die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in ihren Mitgliedsstaaten einfordern kann. Die anderen beiden Wege führen über die oft langwierigen Vertragsverletzungsverfahren, die sich in der Vergangenheit etwa mit diversen Einzelaspekten der umstrittenen Justizreform in Polen beschäftigt haben, sowie über die sogenannten Artikel-7-Verfahren.

Effektives Druckmittel

Letztere sind allerdings mehr politischer als rechtlicher Natur. Theoretisch können sie zum Entzug der Stimmrechte im Europäischen Rat führen. Bis dato wurden nur zwei solcher Verfahren eröffnet – eines gegen Polen, eines gegen Ungarn. Beide sind allerdings ins Stocken geraten. Als Grund dafür gilt unter anderem, dass das mehrstufige Prozedere an einer Stelle Einstimmigkeit aller jeweils anderen Mitgliedsstaaten vorsieht und dass Polen und Ungarn angekündigt haben, einander zu unterstützen.

Vom neuen Mechanismus erwarten viele in Brüssel sich nun ein effektiveres Druckmittel. Der konkrete Rahmen für seine Anwendung muss aber erst noch ausgehandelt werden. So soll die Regelung nur dann greifen, wenn durch mangelnde Rechtsstaatlichkeit die missbräuchliche Verwendung von EU-Geldern droht.

Expertinnen und Experten glauben zum Beispiel, dass der Streit über die Diskriminierung Homosexueller in Ungarn von dem Mechanismus eher nicht betroffen wäre. Ganz im Gegensatz etwa zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom vorigen Oktober, das die nationale Verfassung über EU-Recht gestellt hat und somit Rechtssicherheit und eine transparente Finanzgebarung generell gefährden könnte.

Edtstadler will strikt bleiben

Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte bereits am Dienstag im Gespräch mit dem STANDARD, sie "gehe davon aus, dass die Klage von Polen und Ungarn vom Europäischen Gerichtshof abgewiesen wird". Wenn die polnische Regierung glaube, sie könne sich über Urteile des EuGH hinwegsetzen, dann sei es "selbstredend, welche Position wir dazu vertreten. Man muss da strikt bleiben." Diese Drohgebärde brauche es, "damit die Polen wieder auf den Weg zurückfinden".

Edtstadler sieht auch Anzeichen dafür, dass Polens Regierung daran selbst Interesse hat. Das habe sie bei einem Besuch in Polen am Montag und einem "sehr, sehr guten und offenen Gespräch" mit ihrem Amtskollegen Konrad Szymański "deutlich gespürt. Es ist Bewegung drin." Auch die Ankündigung des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, wonach er einen Vorschlag zur Disziplinarkommission für Richter machen werde, die Brüssel als Eingriff in die unabhängige Justiz bemängelt, gehe in diese Richtung.

Sprache des Geldes

Edtstadler: "Ich habe dazu auch ermutigt. Wir können ihnen helfen, ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen, so wie sie das selbst empfinden." Das bedeute aber nicht, dass die EU in ihrer Position zur Rechtsstaatlichkeit nachgebe, im Gegenteil: "Die Polen verstehen die Sprache der Härte, das kann ich bestätigen, man muss ihnen die Zähne zeigen. Sie verstehen auch die Sprache des Geldes."

Doch selbst wenn Warschau erneut blockiere: Wenn der EuGH den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus als rechtmäßig anerkenne, könnte Brüssel ihn dennoch anwenden, erklärt Edtstadler: "Ich hoffe, dass die Kommission keine Kompromisse machen wird." (Gerald Schubert, Thomas Mayer, 16.2.2022)