Eine radikale Individualisierung des Unterrichts, des Lerntempos und der Leistungsbeurteilung wird Kindern mit Behinderung ebenso gerecht wie jenen mit Hochbegabung, sagt die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch die Gastkommentare von Karl Heinz Gruber, Rudolf Taschner, Barbara Herzog-Punzenberger und Petra Vorderwinkler.
Gut, dass wir – nach vielen Jahren der Funkstille – endlich wieder über die gemeinsame Schule debattieren. Wenn schon nicht in der Gesamtgesellschaft, dann doch zumindest hier im STANDARD. Die grüne Position dazu ist klar: Kinder sollen von der ersten bis zur achten Schulstufe gemeinsam in die Schule gehen. Neuneinhalbjährige Kinder – aufgrund des Semesterzeugnisses der vierten Klasse Volksschule – in verschiedene Schulgebäude auseinanderzusortieren, auf dass sie einander nicht mehr begegnen, ist nicht nur ungerecht, spaltend und für viele Kinder frustrierend. Es stellt auch eine gigantische Verschwendung von Talent und Ressourcen dar.
Ausgezeichnete "Schule am See"
Dass die ÖVP das bisher mehrheitlich anders sieht, wissen wir. Nicht einmal die SPÖ hat es in all den vielen Jahren, als sie Bundeskanzler und Bildungsministerinnen und Bildungsminister stellte, geschafft, den Beton zu sprengen. Was uns jedoch nicht dran hindern soll, unser Ziel im Auge zu behalten. Wie kommen wir ihm zumindest ein paar Schritte näher? Wahrscheinlich nicht, indem wir uns dauerhaft in der Strukturdebatte festkrallen. Zielführender wird es sein, Risse im Beton zu finden, in denen bereits Pflanzen sprießen, und diese Risse immer mehr auszuweiten. Bis die Mauer nachgibt und zu bröckeln beginnt.
Es gibt nämlich bereits Schulen in Österreich, die der Idee einer gemeinsamen Schule recht nahekommen. Etwa die "Schule am See" in Hard bei Bregenz. Hier wird begreifbar, wie innere Differenzierung funktionieren kann: Die Klassen sind jahrgangsgemischt, es lernen jeweils Kinder der ersten bis dritten, der vierten bis sechsten sowie der siebenten und achten Schulstufe gemeinsam. Volksschul-, Mittelschul- und Inklusionspädägoginnen und -pädagogen arbeiten in fixen Teams eng miteinander, begleiten "ihre" Kinder intensiv über viele Jahre hinweg. Die Zäsur nach der vierten Schulstufe, die so viele Kinder und Eltern anderswo stresst, entfällt: Man geht – egal welche Note im Semesterzeugnis steht – einfach weiter in dieselbe Klasse im selben Schulgebäude.
Keine "Gleichmacherei"
In einer Schule wie dieser findet keineswegs "Gleichmacherei" oder "Nivellierung" statt, wie Gegnerinnen und Gegner der gemeinsamen Schule oft befürchten. Sondern genau das Gegenteil: eine radikale Individualisierung des Unterrichts, des Lerntempos und der Leistungsbeurteilung, die Kindern mit Behinderungen ebenso gerecht wird wie jenen mit Hochbegabungen. Verschiedenheit ist nämlich kein Handicap, sondern kann eine Stärke sein – man muss bloß die pädagogischen Methoden kennen, um damit umzugehen.
Dass das ÖVP-geführte Bildungsministerium die "Schule am See" eben mit dem "Staatspreis Innovative Schulen" ausgezeichnet hat, kann nur bedeuten, dass es dieses Modell unterstützt und zur Nachahmung empfiehlt!
Im Aufbruch
Eine ganze Reihe von Schulen im ganzen Land geht ähnliche Wege ja schon länger, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Einige von ihnen sind im Netzwerk "Schule im Aufbruch" organisiert. Sie nützen die – theoretisch großen – Spielräume, die ihnen die Schulautonomie bietet, und machen damit auch jenen Eltern ein attraktives Angebot, die sich die Schulwahl für ihre Kinder genau überlegen. Auf dem Land gelingt das selbstverständlich leichter als in urbanen Ballungsräumen, wo direkte Konkurrenz durch die vielen Gymnasien besteht.
Doch auch einige AHS stellen sich der Herausforderung und nehmen in der Unterstufe Kinder mit und ohne Gymnasialreife auf. In den Hauptfächern bieten sie differenzierte Förderung, die den unterschiedlichen Talenten und Leistungsniveaus gerecht wird. Im Zeugnis wird das jeweils als "AHS"-Note oder als "Standard"-Note ausgewiesen. Mehr Trennung braucht es nicht und gibt es nicht. Denn warum sollten Kinder nicht miteinander turnen, über Geschichte diskutieren, eine neue Fremdsprache lernen oder Freundschaften schließen können, nur weil sie in Mathe unterschiedlich gut sind?
Der riesige Andrang auf solche innovativen Standorte zeigt jedenfalls: In dieser Mauerritze ist sehr viel Platz und großer Bedarf dafür. Weil es allzu viele Kinder gibt, die beim Auseinandersortieren mit neuneinhalb nirgendwo richtig hineinpassen.
Neue Schulcluster
Eine Chance, für diese Kinder neue Räume zu öffnen, sehe ich auch in den neuen Schulclustern. Mehrere benachbarte Schulen verschiedener Typen – etwa eine Volks-, eine Mittelschule und eine AHS – können sich freiwillig zusammenschließen und eng kooperieren, sowohl pädagogisch als auch administrativ. Lehrerinnen und Lehrer können in einem Cluster übergreifend unterrichten, Kinder einen gemeinsam organisierten Förderunterricht, Ganztagsangebote, Räume oder Sportplätze nützen – unterstützt von demselben Supportpersonal und belohnt durch zusätzliche Ressourcen. Klassenwechsel wären leichter, wenn sie innerhalb des vertrauten Clusters stattfänden, die Kollateralschäden des Auseinandersortierens würden dadurch zumindest abgemildert. Vor allem aber würde die Zusammenarbeit gemeinsame Erfahrungen ermöglichen und Schwellenängste abbauen – bei Pädagoginnen und Pädagogen ebenso wie bei Eltern und Kindern.
Nein, die gemeinsame Schule für alle Sechs- bis 14-Jährigen ist das noch nicht. Die bleibt das Ziel. Aber es könnte zumindest ein paar neue Löcher in die Betonmauer unseres geteilten Schulsystems reißen, durch die man besser durchschauen könnte. (Sibylle Hamann, 16.2.2022)