Aufgepasst, Mann! Sollte dir einfallen, nachts im Wald umherzuschleichen, könnte es passieren, dass du auf die Wilis triffst. Das war’s dann. Denn diese Geister könnten dich tanzen lassen, bis dir das Lebenslicht ausgeht. Mit der slawischen Wili-Sage werden dem männlichen Geschlecht in Giselle, einem der populärsten Ballettklassiker überhaupt, die Leviten gelesen.
Jetzt ist Elena Tschernischovas Wiener Fassung des 1841 in Paris uraufgeführten Stücks wieder an der Staatsoper zu sehen. An Giselle haben sich nicht nur unzählige Ballettgrößen abgearbeitet, auch dem zeitgenössischen Tanz ist der Stoff brisant genug.
Beitrag gegen das Vergessen
So sorgte vor fünf Jahren etwa eine Giselle-Interpretation der südafrikanischen Choreografin Dada Masilo bei Impulstanz für Begeisterung. Schon 2003 stellte Bertha Bermudez, Ballerina mit schwarzafrikanischem Hintergrund, in Double Points: Bertha ihre künstlerische Verwicklung mit der Giselle-Figur dar. Und im Jahr davor war das Duett Giszelle zweier Shootingstars der damals zeitgenössischen Choreografie, Eszter Salamon und Xavier Le Roy, zu sehen.
In frischer Erinnerung ist Boris Eifmans Ballett Giselle Rouge, mit dem 2015 in der Volksoper an das tragische Leben der legendären Giselle-Interpretin Olga Spessiwzewa erinnert wurde: Die Ballerina hatte sich so tief in ihre Figur eingearbeitet, dass sie selbst psychische Probleme bekam. Als traditionelle Inszenierung ist Tschernischovas Giselle ein Referenzwerk für heutige Interpretationen. Im Theater werden nur noch selten historische Inszenierungen aufgeführt. Doch gerade die zeigen, woran sich neuere Bearbeitungen abarbeiten. Die Staatsoper verdeutlicht, wie das Ballett genau diesen Beitrag gegen das Vergessen leistet. So gesehen hat der Begriff "angejahrt" ausgetanzt.
Kleine Tücken
Die Wiederaufnahme macht auch kleinere Tücken in Tschernischovas Giselle sichtbar. So fällt gegen Ende der auf die Liebe von Giselle und Albrecht eifersüchtige Hilarion – benannt nach einem heiligen Frühchristen – den Wilis zum Opfer. Doch während Giselles Ende ausführlich dargestellt ist, bleibt Hilarions Tod vor dem Publikum allzu verborgen.
In der ersten Vorstellung am Dienstag gab Kiyoka Hashimoto als Wili-Königin eine gnadenlose feministische Figur ab, und Albrecht wurde von Masayu Kimoto überzeugend verkörpert. Liudmila Konovalova war passabel als Giselle. In weiteren Aufführungen wird die Figur von Maria Yakovleva und Elena Bottaro getanzt werden. (Helmut Ploebst, 17.2.2022)