Die ungarische Justizministerin Judit Varga ließ am Mittwoch an der EuGH-Entscheidung kein gutes Haar.

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Für die Mehrheit im Europäischen Parlament ist es ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gab am Mittwoch grünes Licht für den 2020 beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus. Dieser erlaubt es erstmals, Mitgliedsstaaten durch Einfrieren von EU-Geldern zu sanktionieren, wenn rechtsstaatliche Prinzipien der Union missachtet werden.

Dass die neue Regelung überhaupt vor dem EuGH gelandet war, ist den Klagen von Polen und Ungarn geschuldet. Brüssel wirft den beiden nationalkonservativ regierten Ländern immer wieder vor, die Gewaltenteilung zu missachten, die Justiz zu politisieren oder Minderheitenrechte zu beschneiden.

Warschau und Budapest wiederum halten den neuen Mechanismus für illegal – unter anderem deshalb, weil das Instrument den Mitgliedsstaaten keine ausreichende Rechtssicherheit biete. Der Text, so das Argument, präzisiere nicht, welche Maßnahmen bei Rechtsstaatsverstößen eigentlich zu befürchten seien. Außerdem gebe es in Streitfragen etwa zur Gewaltenteilung oder zur Unabhängigkeit der Justiz bereits die Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags.

In der Geschichte der EU wurden bisher aber lediglich zwei dieser politischen Artikel-7-Verfahren eröffnet: eines gegen Polen, eines gegen Ungarn. Solange beide Staaten einander darin unterstützen, haben die Verfahren jedoch keine Aussicht, zu einem Abschluss zu kommen.

Kommission unter Druck

Bestätigt sieht sich durch das EuGH-Urteil nun vor allem das Europäische Parlament – nicht nur gegenüber den Regierungen in Warschau und Budapest, sondern auch gegenüber der Brüsseler Kommission, der es in der Sache Untätigkeit vorgeworfen hatte. Der Mechanismus ist nämlich bereits seit Jänner 2021 in Kraft, die Klagen Polens und Ungarns hatten keine aufschiebende Wirkung. Dennoch hat die Kommission bisher aus Rücksicht auf die beiden Staaten von einer Anwendung abgesehen.

"Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs fällt auch die letzte Ausrede für die EU-Kommission, dem Abbau von Demokratie und Rechtsstaat in Polen und Ungarn weiter tatenlos zuzuschauen", erklärte am Mittwoch Daniel Freund, ein EU-Abgeordneter der deutschen Grünen, der den Mechanismus mitverhandelt hatte. Im vergangenen Oktober hatte das Europäische Parlament die Kommission beim EuGH sogar wegen Untätigkeit geklagt.

Empörung in Polen und Ungarn

In Warschau und Budapest fielen die Reaktionen hingegen empört aus. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro erklärte, die EU wandle sich von einem Raum der Freiheit zu einem Raum, wo man rechtswidrig Gewalt anwenden könne, um den Mitgliedsstaaten die Freiheit zu nehmen. Brüssel hat Polen seit Jahren vor allem wegen dessen umstrittener Justizreform im Visier.

Im offiziellen Budapest wiederum erinnerte man an den jüngsten Streit rund um den Vorwurf der Diskriminierung Homosexueller: "Der EuGH hat heute eine politische Entscheidung gefällt, wegen des ungarischen Kinderschutzgesetzes", erklärte Justizministerin Judit Varga. Schon zuvor hatte sie getwittert: "Die Entscheidung ist ein lebender Beweis dafür, wie Brüssel seine Macht missbraucht."

Sorge ums Geld

Das sogenannte Kinderschutzgesetz hat mit dem EuGH-Urteil jedoch nichts zu tun. Es ist seit Sommer in Kraft und soll Kinder und Jugendliche gegen Informationen über jede Art von Zwischenmenschlichkeit abschirmen, die von der heterosexuellen Norm abweicht. Die LGBTQI-Community klagt darüber, dass seit seiner Annahme gewalttätige Angriffe auf nicht heterosexuelle Menschen zugenommen hätten.

Ungarns Opposition lenkte das Augenmerk auf den Kern des Richterspruchs: "Der EuGH hat entschieden, dass Dieben kein Geld gegeben wird", erklärte der Spitzenkandidat der Opposition für die Parlamentswahl am 3. April, Péter Márki-Zay. Ähnlich äußerte sich die sozialdemokratische Europaabgeordnete Klára Dobrev: "Dieses Urteil handelt davon, dass die EU das Recht hat, jene zu bestrafen, die die EU-Gelder stehlen", teilte sie mit. Für Premier Viktor Orbán bedeute dies eine "schallende Ohrfeige".

In der Tat soll der neue Mechanismus nur dann greifen, wenn durch mangelnde Rechtsstaatlichkeit eine missbräuchliche Verwendung von EU-Geldern droht. Da sich dabei ein großer Definitionsspielraum abzeichnet, sind bei seiner konkreten Anwendung auch in Zukunft hitzige Debatten zu erwarten. (Gerald Schubert, Gregor Mayer aus Budapest, 16.2.2022)