Bild nicht mehr verfügbar.

Kurdwin Ayub freut sich über die Auszeichnung ihres ersten Langspielfilms.

Foto: Vianney Le Caer/Invision/AP

Zu einem gelungenen Festival gehören unerwartete Begegnungen. Das gilt nicht nur für die Filme, sondern auch für das gemeinsame Miteinander. Menschen kommen ins Gespräch, knüpfen Kontakte – das mag banal klingen, steht aber oft am Anfang eines außergewöhnlichen Projekts. Die 72. Berlinale ist dahingehend mit Handicap gestartet: Der European Film Market, der Businessteil des Festivals, wurde pandemiebedingt ins Netz verlagert. Rund um die Kinos am Potsdamer Platz war es weit weniger quirlig als gewohnt, bisweilen geradezu ausgestorben.

Dennoch ist die Berlinale nach dem Totalausfall von 2021 ein Erfolg gewesen. Bis Sonntag gibt es noch die Publikumstage, die Kinos sind bisher sehr gut besucht. Den Unkenrufen zum Trotz hat sich die Entscheidung der Leitung, von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, das Festival unbedingt physisch abzuhalten, bezahlt gemacht. Dass gerade Isabelle Huppert wegen einer Corona-Infektion nicht zu ihrer Ehren-Bär-Gala anreisen konnte, war Pech, passte aber ins Bild einer der Not abgerungenen Veranstaltung.

Ob sich die pandemische Wetterlage auch auf das Programm ausgewirkt hat, ist eine andere Frage. Vielleicht war die Situation für einige Produzenten zu ungewiss, sodass man es vorgezogen hat, auf spätere Termine im Jahr zu warten. Der Wettbewerb war jedenfalls kein her ausragender, sondern solide, oft durchschnittlich, mit einigen Ausreißern nach oben.

Sieg für ein Bauernfamiliendrama

Die Jury unter der Leitung von M. Night Shyamalan vergab den Goldenen Bären an die Katalanin Carla Simón für ihren autobiografisch inspirierten Film Alcarràs. So heißt eine Region in ihrer Heimat, in der nun die Pfirsichfelder Solaranlagen weichen sollen. Simòn bertrachtet diese ökonomischen Verwerfungen allerdings durch das Prisma eines Haushalts dreier Generationen.

Der Widerstand der Bauern wird so nur zu einem Teil der Erzählung, stärker interessiert sich der Film dafür, welche Spuren die Umwälzungen im inneren Familiengefüge hinterlassen. Der Blick auf das Verhältnis der Generationen, vor allem jenes innige der Kinder zum Großvater wirkt besonders stimmig, weil sich darüber auch eine tiefe Beziehung zum Land, eine Tradition vermittelt. Ganz ausgereift wirkt Simóns Film jedoch nicht, er will zu viel zugleich ergründen, manchmal wirkt ihre Perspektive umständlich.

Starker heimischer Film

Immerhin hinterließ der österreichische Film, der in großer Vielfalt präsent war, richtig Eindruck. Ruth Beckermanns Film Mutzenbacher erhielt den Hauptpreis der Sektion Encounters – ein großer Erfolg für den vielleicht am lustvollsten diskutierten Film des Festivals. In Beckermanns verschmitzt-ironischem Blick auf männliche Leser des Buchklassikers spiegeln sich Sehnsüchte und Missverständnisse im Umgang mit Sexualität wider, auch eine Männlichkeit, die sich durch Wokeness-Debatten bedroht fühlt.

Kurdwin Ayub wurde für Sonne mit dem Preis für das beste Debüt ausgezeichnet. Direkt und unverstellt beschreibt sie die Lebenswelt eines kurdisch-österreichischen Teenagers und ihrer Freundinnen, für die Kopftuch und Lebensfreude kein Widerspruch sind. Ulrich Seidls Nachsaisondrama Rimini wurde äußerst wohlwollend aufgenommen, ging aber leer aus.

Bild nicht mehr verfügbar.

Auch die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann wurde ausgezeichnet.
Foto: AP

Als eines der stärksten Filmländer erwies sich überraschenderweise die Schweiz. Neben Unrueh von Cyril Schäublin, einem raffiniertem Historienstück rund um Anarchismus und Uhrmacherei im Bern der Jahrhundertwende (Beste Regie der Encounters-Sektion), beeindruckte vor allem Drii Winter von Michael Koch, den die Jury nur mit einer lobenden Erwähnung bedachte. Der Film führt an einen Ort, an dem viele Schweizer Filme spielen: in ein Dorf, hoch oben auf dem Berg. Dort entspinnt sich zwischen Anna (Michèle Brand) und Marco (Simon Wisle) eine Liebesgeschichte, auf der von Beginn an felsenschweres Gewicht zu liegen scheint. Marco ist einer von draußen, ein Bär von einem Mann. Wenn er mit Anna Zärtlichkeiten austauscht, kann er sein Glück nicht fassen.

Fokus auf Paare und Privatwelten

Solche Geschichten gehen nie gut aus. Ein alpiner Tragödienchor, der vor Bergkulissen von Unheil und Trauer singt, kommentiert das Geschehen dazwischen. Koch hat mit Amateurschauspielern gedreht, die er reduziert, dafür mit wuchtigen, langsamen Gesten spielen lässt. Das verleiht dem Film eine seltsame Erhabenheit, die an den stilisierten Realismus von Valeska Grisebach (Sehnsucht) erinnert.

Der Rekurs auf Paarbeziehungen, auf Zwischenmenschliches war einer der roten Fäden dieses Jahrgangs. Gesellschaftsdiagnosen waren in private Welten eingebettet. Claire Denis, die als beste Regisseurin ausgezeichnet wurde, dringt in Avec amour et acharnement in die Feinmechanik einer Beziehungskrise vor, die durch das Auftauchen einer alten Liebe ausgelöst wird.

Der Koreaner Hong Sangsoo war immer schon ein Meister der kleinen Form, in der er existenziellen Krisen aufspürt, die in jedem seiner Filme neue Intensitäten entwickeln. In The Novelist’s Film, der den Großen Preis der Jury erhielt, sind einige Themen des Festivals noch einmal in poetischen Miniaturen gebündelt: die Not mit dem Älterwerden, das Band zwischen Generationen, die Lust an Ausschweifungen. Einmal sitzen die Schriftstellerin und die Schauspielerin, die einander verehrenden Figuren, in einem Lokal, draußen starrt ein Mädchen hinein. Ein irritierender Moment, der das Bild in Unruhe versetzt. Und eine schöne zufällige Begegnung. (Dominik Kamalzadeh, 16. 2. 2022)