"Dinge, die man nicht misst, kann man nicht ändern. ‚Ein bissl mehr Sport‘ ist daher eine Nullaussage", sagt der Experte.

Foto: Getty Images/iStockphoto/FatCamera

Sogar Sex lässt sich tracken. Mithilfe von Apps, in denen darüber ganz genau Buch geführt werden kann. Oder mithilfe eines, nun ja, Wearables, das den Wechsel von Positionen, die Dauer und – äh – die Beschleunigung misst. Und selbstredend aufzeichnet, wie viele Kalorien man dabei verbrennt.

Schnödes Schrittzählen und das Tracken des Schlafs sind heute längst Standard. Selbstoptimiererinnen und Selbstoptimierer wissen dank ihrer Wearables und vieler, vieler Sensoren mittlerweile Dinge, die früher maximal ihren Arzt oder ihre Ärztin interessiert hätten – wenn überhaupt.

Florian Schumacher etwa weiß nach einem Blick auf seine Uhr, ob er aktuell gestresst ist oder nicht. Er schaut abends auf seinem Handy nach, wie lange seine Beine beim Gehen untertags gleichzeitig Bodenkontakt hatten und wie lange jedes Bein nur einzeln am Boden war. Schumacher laboriert an einer Sportverletzung. Aus den gesammelten Informationen lassen sich Rückschlüsse auf Gangbild und Gangsicherheit machen.

Blutwerte kontrollieren

Florian Schumacher ist Digital-Health-Consultant und Gründer von Quantified Self Deutschland. Hier vernetzen sich Menschen, die über sich selbst und ihre Umwelt Daten sammeln, und Anbieter entsprechender Gadgets. Was viele von ihnen eint: Sie wollen mittels abstrakter Werte ihren eigenen Körper nicht nur verstehen, sondern mit kleinen Experimenten auch immer weiter optimieren.

Und der Wissensdurst geht weit über die Uhr am Handgelenk hinaus. Schumacher ernährt sich zum Beispiel großteils pflanzlich. Er kombiniert unterschiedliche Protein- und Fettsäurequellen – und schaut, welchen Einfluss das auf seine Blutwerte hat.

Wichtig sind vielen auch der Ruhepuls und die Herzfrequenzvariabilität. Letztere ist ein Parameter dafür, wie variabel das Herz schlägt. Je variabler der Herzschlag, umso gesünder das Herz. Wer in der Arbeit Stress hat oder am Vorabend ein hartes Workout absolviert hat, hat vielleicht am nächsten Morgen eine niedrigere Herzfrequenzvariabilität. Für die Tagesplanung könnte man daraus zum Beispiel folgern, dass man es heute etwas ruhiger angehen sollte.

Ein Infekt zieht auf

Manche gehen bei der Interpretation ihrer Daten aber einen Schritt weiter: Sie glauben, dass sie aus der Herzfrequenzvariabilität sogar einen drohenden Infekt ablesen können, bevor die Symptome überhaupt auftreten – und dann entsprechend gegensteuern, um die Erkältung im Keim zu ersticken.

Funktioniert das? "Man kann mit der Herzfrequenzvariabilität Aussagen dazu treffen, wie man jetzt im Vergleich zu sonst drauf ist", sagt der Sportmediziner und Kardiologe Josef Niebauer. "Aber die Zukunft kann man damit nicht voraussagen." Zwar könne es durchaus aufschlussreich sein, sich die Werte im Nachhinein anzuschauen und daraus seine Lehren zu ziehen. "Aber für Vorhersagen sind die Daten noch viel zu unpräzis." Nachsatz: "Aber das wird kommen."

Josef Niebauer, Vorstand des Salzburger Universitätsinstituts für präventive und rehabilitative Sportmedizin, findet Wearables gut. Denn: "Dinge, die man nicht misst, kann man nicht ändern. ‚Ein bissl mehr Sport‘ ist daher eine Nullaussage", weiß er aus Patientengesprächen. Wer sich vornimmt, jeden Tag mit einer vorgegebenen Herzfrequenz 20 Minuten zu gehen, und diesen Spaziergang aufzeichnet, hat etwas Konkreteres in der Hand.

EKG am Handgelenk

Überhaupt entwickeln sich Wearables längst vom Lifestyle-Produkt in Richtung Medizin. Die ersten Uhren können bereits halbwegs verlässlich den Blutdruck messen. Die Apple Wach Series 4 verfügt sogar über eine EKG-Funktion. Studien haben bestätigt, dass das EKG am Handgelenk tatsächlich funktioniert.

An der Grazer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde kommt die Technologie bereits zum Einsatz, berichtet der Kinderkardiologe Stefan Kurath-Koller: Bei einer jungen Patientin habe es den Verdacht auf Herzrhythmusstörungen gegeben. Aber immer dann, wenn sie auftraten, war das Krankenhaus weit weg. Die Patientin kaufte sich eine Apple Watch und zeichnete ein EKG auf, als sie Probleme mit ihrem Herz verspürte. Per E-Mail schickte sie es an ihren Arzt, der die Diagnose stellen konnte. Eine Anschaffung für medizinische Zwecke mache allerdings nur dann wirklich Sinn, wenn die Indikation stimmt, betont Kurath-Koller.

Selbstvermessung funktioniert natürlich auch sehr viel profaner: In Onlineforen wird auch über Toiletten diskutiert, die das, was darin landet, quasi in Echtzeit analysieren können. Oder über Sensoren, mit denen sich die Körpertemperatur unkompliziert erheben lässt – um herauszufinden, wie sich die Jahreszeit und die Ernährung darauf auswirken.

Bessere Entscheidungen

Wenn man das alles denn wissen will. Die Zukunft wird Detektivinnen und Detektiven des eigenen Körpers noch viel mehr Möglichkeiten in die Hand geben: Florian Schumacher glaubt, dass man mit der Smartwatch künftig mehr über den Stoffwechsel herausfinden kann, etwa über Blutzucker und die Auswirkungen von Alkoholkonsum. "Das wird dabei helfen, noch bessere Entscheidungen treffen zu können", ist er überzeugt. Auch den Blutdruck könne man dann standardmäßig mittels Smartwatch überprüfen, "so kann man viel genauer messen, wie sich der Lebensstil darauf auswirkt", ist er überzeugt.

Auch Kardiologe Niebauer setzt große Hoffnungen in die Wearables: In Zukunft werde es digitale Coaches geben, die die vielen Daten, die über einen Nutzer oder eine Nutzerin gesammelt werden, zusammenführen und daraus konkrete Verhaltensvorschläge entwickeln. Denn an dauerhaften Verhaltensänderungen – mehr Bewegung, gesündere Ernährung – würden die Menschen ohne Unterstützung oft scheitern. "Aber das ist nicht Big Brother", betont er. "Man setzt seine Daten ja zu seiner eigenen Unterstützung und für seine eigenen Ziele ein."

Zeit zum Lüften

Andere haben diesbezüglich in puncto Datenschutz größere Bedenken. In den USA belohnen Versicherungen heute schon Menschen, die laut Fitnesstracker besonders aktiv sind. Der Schritt von der Belohnung hin zur Bestrafung für jene, die weniger gesund leben, ist nur ein kleiner, mahnen Kritikerinnen und Kritiker. Die Bedenken können jene, die sich heute schon selbst vermessen, meist nicht nachvollziehen. Für sie überwiegt der Vorteil, Wissen über sich und ihre Umwelt zu gewinnen.

Etwa 200 miteinander vernetzte Geräte stehen in Florian Schumachers Wohnung. So hat er beispielsweise über die Räume verteilt Wetterstationen aufgestellt, die Luftfeuchtigkeit und CO2-Gehalt rund um die Uhr messen. Wenn es Zeit fürs Lüften ist, kommt eine Nachricht aufs Handy. Wenn Schumacher schläft, geht stattdessen eine rote Lampe auf dem Gang an.

Nur die Fenster, die muss er dann noch selber öffnen. (Franziska Zoidl, 20.2.2022)