Die Donauinsel ist nicht nur Hochwasserschutz und beliebtes Naherholungsgebiet, im vergangenen Sommer soll sie auch zum Tatort eines Sexualdelikts geworden sein. Ein unbescholtener 37-Jähriger muss sich deshalb vor Gericht verantworten.

Foto: Robert Newald

Wien – "Grundsätzlich ist zu sagen, dass, wenn ein Sachverhalt nicht mehr klärbar ist und Aussage gegen Aussage steht, im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden muss. Im gegenständlichen Fall ist es anders: Eine Version ist lebensnah und glaubhaft, die andere strotzt vor Widersprüchen", macht Stefan Apostol, der Vorsitzende des Schöffensenats, am Ende des Prozesses gegen Herrn W. die Meinung des Senats unumwunden klar. Der unbescholtene 37-Jährige ist wegen sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen Person angeklagt – er soll sich im vergangenen Juli an seiner betrunkenen Nachbarin vergangen haben, wirft ihm der Staatsanwalt vor.

Verteidiger Sascha Flatz und sein Mandant weisen den Vorwurf einigermaßen empört zurück. "Es ist für mich unverständlich, dass überhaupt Anklage erhoben wird!", ärgert sich Flatz. Auch W. bekennt sich mit Bestimmtheit "nicht schuldig" und sieht sich eigentlich als Opfer.

Zuspruch für weinende Nachbarin

Er sei am Tattag mit seiner Ex-Freundin und dem gemeinsamen Kind im Garten gewesen, als die 22-jährige Nachbarin J. völlig aufgelöst vorbeiging. Die Ex-Freundin das Angeklagten fragte die junge Frau, was los sei, sie sagte, ihr Freund habe mit ihr Schluss gemacht. Als gute Nachbarn lud man J. in die Wohnung ein, irgendwann sei die Idee geboren worden, ob W. und J. nicht etwas trinken fahren sollten. "Ich wollte eigentlich nicht fortgehen, da mein Kind bei mir war, aber meine Ex hat gesagt: 'Feiert das Alleinsein!'", erinnert der Arbeiter sich.

W. und J., die sich als Nachbarn seit rund einem Jahr flüchtig kannten, fuhren also in ein Einkaufszentrum und blieben dort bis zur Sperrstunde. J. trank zwei Tequila und zwei oder drei Mojitos. "Beim letzten hat sie gesagt, dass der komisch schmeckt, also habe ich einen Schluck genommen. Aber da ich keine Cocktails trinke, konnte ich dazu nichts sagen", entschuldigt sich der Angeklagte.

Als das Lokal schloss, habe die Nachbarin vorgeschlagen, ein anderes Café zu besuchen, auch dort war aber schon alles dunkel. Daher sei man zu einer Tankstelle gefahren und habe Bier gekauft. "Sie hat gesagt, dass das eine Superidee ist, und auch gezahlt, da ich vorher die Cocktails bezahlt habe", erklärt der Österreicher. Anschließend begab man sich auf die nahe Donauinsel und nahm mit dem Gesicht zueinander auf der Bank eines Picknicktisches Platz.

"Dann ist es zärtlicher geworden"

"Wir haben dann Belangloses geredet, sie hat mir erzählt, dass sie süchtig nach Nasenspray ist", schildert W. die Situation. "Dann ist es zärtlicher geworden" – erst küsste man sich auf den Mund, dann mit Zunge, dann kamen weitere erogene Zonen an die Reihe, und schließlich habe J. ihre Jeans heruntergezogen, und er habe bei ihr Oralverkehr praktiziert, behauptet der Angeklagte.

Dieser endete recht abrupt. "Als ich sie oral verwöhnt habe, 'tschuldigung für den Ausdruck, hat sie gestöhnt – und dann kam plötzlich ihr Ex-Freund", erzählt W. dem aus zwei Männern und zwei Frauen bestehenden Schöffengericht. Der Nachbar habe zu seiner früheren Partnerin geschrien: "Nicht einmal 24 Stunden, und du hast schon einen anderen!", worauf J. sich ihre Hose wieder hochzog und dem abmarschierenden Ex mit den Worten: "Warte! Warte!" nachlief. Der Nachbar sei nochmals kurz zurückgekommen und habe in den Raum gestellt, er habe "600 Biker hinter sich", schildert der Angeklagte noch, dann sei das Paar gefahren, und auch er habe sich nach Hause begeben. Bis sich am nächsten Tag die Polizei meldete.

"Und warum soll Ihre Nachbarin, mit der es ja offenbar vorher keine Auseinandersetzungen gab, Sie plötzlich falsch belasten?", will Vorsitzender Apostol wissen. "Ich weiß es nicht", erwidert der Angeklagte. "Ich kann mir nur vorstellen, dass ihr Ex-Freund sie nicht als – entschuldigen Sie den Ausdruck – 'Flittchen' sehen soll", kann W. nur mutmaßen.

Bereits davor körperlicher Kontakt

Der Angeklagte beteuert auch, J. sei keineswegs besinnungslos betrunken oder sonst völlig beeinträchtigt gewesen. Man machte sich bereits im ersten Lokal wechselseitig Komplimente und berührte sich an den Händen, auf der Fahrt ins zweite Lokal hatte W. seine Hand auf dem Knie von J., und die Küsse auf der Donauinsel seien auch zum Teil von ihr ausgegangen, behauptet der Angeklagte. "Sie sagte auch, das Alter spielt keine Rolle", spricht er die Differenz von 15 Jahren an.

Dann kommt Zeugin J. und schildert, sie sei an diesem Abend wegen des Beziehungsendes "wirklich sehr, sehr, traurig" gewesen: "Ich war am Ende und fertig." Im ersten Lokal habe sie W. hauptsächlich ihr Leid geklagt, aber von ihm auch "ziemlich viele Komplimente bekommen". – "Haben Sie die erwidert?", interessiert Apostol. "Ich habe mich dafür bedankt, aber sie nicht erwidert", erklärt die 22-Jährige. Der letzte Mojito habe komisch geschmeckt. "Hat W. davon gekostet?", fragt der Vorsitzende nach. "Ja, er hat einen Schluck getrunken."

"Ich wollte eigentlich nur noch heim"

Als man das erste Lokal verließ, habe sie sich jedenfalls äußerst unwohl gefühlt. "Es ist mir nicht mehr gut gegangen, ich hatte Kopfweh, und mir war schwindlig. Ich wollte eigentlich nur noch heim." – "Warum haben Sie sich kein Taxi genommen?", wundert Apostol sich. "Dazu wäre ich nicht mehr fähig gewesen", behauptet die Zeugin. "Aber wenn Sie heim wollten, warum ziehen Sie dann weiter ins nächste Lokal?", lässt der Vorsitzende nicht locker. Der Angeklagte habe unbedingt noch weiter fortgehen wollen, und sie sei auf seinen fahrbaren Untersatz angewiesen gewesen, sagt die Zeugin zunächst. Denn nächtigen wollte sie beim Ex-Freund.

Um dann zu präzisieren: "So ist es mir noch nie gegangen." Sie habe bereits auf der Fahrt vom ersten zum zweiten Lokal ein ungutes Gefühl bekommen und sei mit ihrer besten Freundin via Handy in fernschriftlichem Kontakt gestanden, habe für diese auch die Liveortung ihres Mobiltelefons aktiviert. Auch die Tankstelle habe sie nur W. zuliebe besucht, ebenso die Donauinsel.

Ex-Freund rief an

Als sie gegen Mitternacht mit dem Angeklagten bereits auf der Parkbank saß, habe ihr Ex-Freund angerufen und gefragt, wo sie bleibe. Sie antwortete, sie würde bald heimkommen, danach bekommt ihre Erinnerung nach ihrer Darstellung Lücken. W. sei im Gespräch immer näher gerückt, habe sie berührt und schließlich geküsst. "Ich wollte es nicht, aber ich habe nichts tun können", sagt sie auf Apostols Frage, warum sie den Angeklagten nicht weggedrückt habe. Sie muss auch eingestehen, nie Nein gesagt zu haben. "Ich glaube, ich habe es durch meine Körpersprache ausgedrückt", meint sie, ihre Ablehnung deutlich gemacht zu haben.

Schließlich müsse W. ihr ihre Jeans ausgezogen haben, sie habe daran aber kaum mehr eine Erinnerung. Beisitzerin Eva Brandstetter lässt sich ausführlicher schildern, wie man einer Regungslosen auf einer schmalen Bank eine Hose ohne ihre Mithilfe herunterziehen soll. J.s Versuch einer Erklärung überzeugt Brandstetter nicht: "Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen, wie der Angeklagte Ihnen die im Liegen ausziehen soll!", hält die Beisitzerin fest.

"Ich hatte wirklich Angst!"

Auch beim angeklagten Missbrauch habe sie geschwiegen: "Ich hatte wirklich Angst, wenn ich mich weiter wehre oder schreie, dass mir etwas passiert!", begründet sie. Sie sei mit geschlossenen Augen ruhig dagelegen, irgendwann habe sie ihren Ex-Freund schreien gehört. "Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat. Er hat mich dann gestützt und zu seinem Auto gebracht", erklärt die Zeugin zunächst. Auf Vorhalt des Verteidigers, dass selbst der Ex-Freund sagt, sie sei bei seinem Erscheinen aufgesprungen, habe die Hose angezogen und sei zu ihm gelaufen, sagt J., möglicherweise sei sie die ersten Schritte alleine gegangen.

Apostol kommt noch etwas seltsam vor: J., die auch 500 Euro Schmerzensgeld fordert, wurde von ihrem ehemaligen Partner direkt ins nächstgelegene Krankenhaus gefahren, wo auch ein Sex-Kit zum Einsatz kam. Dem Spitalspersonal erzählte die junge Frau damals, sie habe "während des Cunnilingus mehrmals verneint, dass sie das wolle", wie protokolliert wurde. "Nun sagen Sie, Sie haben die ganze Zeit geschwiegen?" – "Das muss ein Missverständnis sein, ich wollte nicht mehr fortgehen, das habe ich gemeint", sagt die Zeugin nun vor Gericht.

Angebot der besten Freundin ausgeschlagen

Sie bietet auch an, die Whatsapp-Kommunikation mit ihrer besten Freundin herzuzeigen, die damals aus Angst, da J. sich nicht mehr meldete, den Ex-Freund alarmiert hatte. Wie sich herausstellt, hatte die Freundin noch im ersten Lokal Angst, dass J. nicht mehr nach Hause komme, und bot ihr mehrmals an, sie abzuholen. J. versichert in ihren Antworten mehrmals, dass alles gut sei, und schreibt auch noch, man fahre nun zur Tankstelle "was trinken". Nach dem Besuch der Spitalsambulanz schreibt J. dann als letzte Nachricht um 2.46 Uhr, dass alles in Ordnung sei und sie ihre Freundin auch lieb habe.

"Sie haben uns vorher erzählt, Sie seien nicht mehr fähig gewesen, ein Taxi zu rufen. Und Ihre beste Freundin bietet Ihnen mehrmals an, Sie abzuholen? Warum sagen Sie nicht zu?", ist der Vorsitzende irritiert. "Ich wollte nicht, dass ihr etwas passiert", lautet die etwas überraschende Begründung. J. habe nämlich nicht nur um ihre eigene Gesundheit, sondern auch um die der Freundin Angst gehabt. "Aber warum schreiben Sie Ihrer Freundin dann nicht: 'Hilfe, ruf die Polizei!', wenn die Freundin den Standort kennt und Sie angeblich schon solche Angst haben?", fragt auch die Beisitzerin. "Warum ich Angst hatte, kann ich selbst nicht sagen", bleibt die Zeugin unscharf. Auch die Frage des Verteidigers, warum sie beim Telefonat mit ihrem Ex-Freund diesen nicht um Unterstützung gebeten hatte, gibt es keine klare Antwort.

1,6 Promille, aber nicht beeinträchtigt

Im Spital wurden bei J. 1,6 Promille Alkohol festgestellt, Hinweise auf andere Drogen fanden sich nicht, sie sei bei klarem Bewusstsein und nicht beeinträchtigt gewesen, wurde notiert. Der Ex-Freund hat eigentlich nur noch wenig Erinnerungen, bestätigt aber seine Aussage bei der Polizei. Als er sich damals dem Picknicktisch genähert habe, habe er "ein kurzes Stöhnen, aber keine Hilfeschreie gehört", rekapituliert er. Auf der Fahrt ins Spital habe J. die ganze Zeit geweint, aber nicht gesagt, was passiert sei.

"Opferverhalten ist manchmal nicht rational, wir kennen das aus vielen Fällen", kämpft der Staatsanwalt in seinen Schlussworten um eine Verurteilung. "So eine Anklage ist der Horror für jeden Mann, da steht man mit einem Fuß im Knast", kontert Verteidiger Flatz. W. leide seit Monaten unter dem psychischen Druck.

"Sie sagt nicht die Wahrheit"

Der Senat braucht nur gut fünf Minuten, ehe Apostol mit der eingangs erwähnten Begründung W. vom Anklagevorwurf freispricht. Die vor Widersprüchen strotzende Aussage sei jene von J., erklärt der Vorsitzende. Und wird noch deutlicher: "Sie sagt nicht die Wahrheit", ist er überzeugt. Es sei auch "durchaus zutreffend, wenn der Herr Verteidiger sagt, dass J. den wahren Opfern von Sexualstraftaten durch ihr Verhalten schadet", führt Apostol noch aus. Da dem Angeklagten bei einer Verurteilung bis zu zehn Jahre Haft gedroht hätten, obliege es nun der Anklagebehörde zu prüfen, ob J. eine qualifizierte Verleumdung begangen habe, die bis zu fünf Jahre Gefängnis bringen kann.

Zum Freispruch gibt der Staatsanwalt keine Erklärung ab, weshalb das Urteil nicht rechtskräftig ist, gleichzeitig bittet er aber auch um eine Protokollabschrift der Verhandlung, um die Aussagen von J. genauer analysieren zu können. (Michael Möseneder, 21.2.2022)