Die Vermessung Italiens vermittels Poesie: Pier Paolo Pasolini (1922–1975) auf den Spuren Dante Alighieris.

Foto/Grafik: Marie Jecel

Mit Erscheinen seines Gedichtbandes Le Ceneri di Gramsci (Deutsch: Gramsci’s Asche) 1957 war Pier Paolo Pasolini endlich der erhoffte Spagat gelungen. Der acht Jahre vorher aus dem Friaul nach Rom übersiedelte Dichter schrieb nunmehr formvollendete Verse. Er fügte Terzinen und Elfsilber – Formen in der Nachfolge Dantes – zu schier endlosen Gesängen zusammen. Doch vor den stummen Mauern der Tradition, den duftenden Grasmulden und "toskanischen Feldern", gewinnt Pasolini in elf Langgedichten mit großer Entschiedenheit neuen, von keinem Vorgänger bereiteten Boden.

Als entschlossener Außenseiter betritt der Ex-Mundartdichter "Waste Land" (T. S. Eliot): ein von Armut und Auszehrung betroffenes, wüst-schönes Nachkriegsitalien, das an der Schwelle zur Moderne steht. Das an Agonie leidet und sich selbst entfremdet ist durch die Krankheitszeichen blinder Geschäftigkeit. Pasolini findet dafür die passende Chiffre: die leblose "Tatze" eines Baggers, der, eingewühlt in das Erdreich am römischen Stadthügel Gianicolo, als Werkzeug der "Sklaverei" entseelt vor sich hin rostet.

Manchmal, in der Erinnerung an das Friaul, malt er Bilder seines Künstlerfreundes Giuseppe Zigaina in satten Sprachfarben nach. Irgendwo, in der "Stille zwischen Basiliken und Baracken", schlummert eine Form von Vitalität, die Pasolini nicht müde wird zu besingen. Gemeint ist das "Italien der Armen" (Gedichttitel), der Subproletarier: ein Brachfeld, das gegen Süden zu von "afrikanischen Winden" versengt wird. In dessen Winkeln es beißend nach Urin stinkt und wo einer verschwiegenen Erotik gefrönt wird. Das jedoch die Keimstätte bilden soll einer neuen, zugleich uralten Vitalität, die von keinem Konsum korrumpierbar ist.

Die Anrufung des marxistischen Meisterdenkers Antonio Gramsci (1891–1937) bildet das Herzstück dieses gedankenlyrischen Bandes voller betörender Bilder. Selbst die Pasolini unwohlgesinnten Juroren des Primo Viareggio erkannten ihm anno 1957 seine Preiswürdigkeit zu. Allerdings musste der Autor – "Star" und homosexueller Außenseiter in Personalunion – sich die Auszeichnung mit Sandro Penna und Alberto Mondadori teilen. Ein Affront.

Frohsinn und Fortschritt

Pasolini suchte seinerseits den Widerspruch. Immer wieder verheddert er sich auf seiner Suche nach der ursprünglichen "Fröhlichkeit" des Proletariats. Denn, so die These: "Die Ursprünglichkeit des Menschen / ward verloren in den Taten". Der Mensch "besitzt" die Geschichte. Allein ihretwegen vermag er sein Tun und Trachten zu organisieren: Geschichtsbewusst schließt er Bündnisse und steht im Einklang mit einer Ordnung, die es gewohnt ist, die Ärmsten der Armen im Stich zu lassen. Den Stolz vermag sie ihnen nicht zu rauben. Welche Folgerung wäre aus dieser verzwickten Lage zu ziehen? "Doch wie ich die Geschichte besitze, / so besitzet sie mich; ich bin erleuchtet: // doch was nützt mir das Licht?"

Pasolini, der Materialist ist und volksgläubig, der links denkt und doch nirgendwo ganz dazugehört, sieht das Licht in der Vorstadt flackern. Er vertraut bedingungslos auf die Jünglinge in den Slums ("ragazzi di vita"). Die stehlen, trinken, verlachen ihn und seinesgleichen. Diejenigen hingegen, die auf kommunistischen Parteikundgebungen herumlungern, sind tot. Mit ihnen gestorben ist eine Zeit, die ausschließlich in papierenen Kategorien des Fortschritts gemessen wird.

So steht Italiens wichtigster Nachkriegspoet unbehaglich vor Gramscis Urne auf dem protestantischen Friedhof vor den Toren Roms: von Zweifeln erfüllt, ob mit marxistischer Gelehrsamkeit allein irgendetwas auszurichten sei. Pasolini hat alle orthodoxen Ausflüchte aus dem Dilemma der Moderne von sich gewiesen. Lieber berauscht er sich an Hammerschlägen, die aus irgendeiner Werkstatt auf den Friedhof zufällig herüberwehen. Vielleicht sind sie es, die das Ende der Geschichte von Leid und Ausbeutung verkünden. Denn, so das Credo: "Ich liebe die Welt, / die ich hasse". (Ronald Pohl, 18.2.2022)