Wer regelmäßig in Wiens Lokalen wie dem Café Europa verkehrt, kennt ihn: "Uhudla"-Urgestein Walter Lohmeyer. Er hängt jetzt die Straßenzeitung an den Nagel.

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Wien – Wenn er ans Ende des "Uhudlas" denkt, habe er einerseits Tränen in den Augen, andererseits überwiegt die Freude, denn: "Wenn man so viele Trotteln sieht, denke ich mir, dass ich froh bin, dass ich aufhöre." Die Trottel, das sind für Walter Lohmeyer jene, die sich auf seine Kosten profilieren wollen: "Sie glauben, ein Zeitungsverkäufer ist eh ein Opfer." Das sei früher schon so gewesen, nicht aber in dieser Intensität wie heute: "80 Prozent der Bevölkerung sind 100-prozentige Volltrotteln. Das ist so." Punkt.

Corona habe die Gesellschaft verändert, sagt der 65-Jährige: "Es ist irrsinnig egozentrisch und aggressiv geworden. Jeder fürchtet um seinen Arbeitsplatz, um seine Zukunft." Eine Gemengelage, die den Wunsch nach dem beruflichen Ausstieg beschleunigt.

30 Jahre "Uhudla"

Walter Lohmeyer kann ein Lied über die Gesellschaft singen und viele Geschichten über sie erzählen, ist er doch seit 27 Jahren in Wiens Lokalen unterwegs, um den "Uhudla" zu verkaufen. Die Straßenzeitung ist seine Einkommensquelle – und sein Lebensretter. Lohmeyer war Alkoholiker und lebte jahrelang auf der Straße. Erst der "Uhudla" und sein eiserner Wille haben ihn aus dem Sumpf gezogen. In Person von Martin "Max" Wachter, der den "Uhudla" vor 30 Jahren gegründet hatte und Lohmeyer eine Perspektive gab.

Bis zu 30 Kilometer absolvierte Lohmeyer Tag für Tag, um vom Tschocherl bis zum Restaurant alles abzuklappern: "Ich habe mir ausgerechnet, dass ich in den 27 Jahren rund 1,5 Millionen Leute angeredet habe." Man sieht viel, man hört viel: "Ich war die Klagemauer für viele." Von zerstrittenen Ehen bis zu besoffenen Politikern und Politikerinnen: Das Repertoire kennt keine Grenzen. Die Geschichten, manchmal auch ihre Protagonisten, liegen auf der Straße. Lohmeyer sammelt sie auf und schreibt sie. Im Herbst 2022 soll seine Autobiografie erscheinen.

Corona als Beschleuniger

Dass der "Uhudla" als Zeitung eingestellt wird, habe mit Corona nur indirekt etwas zu tun. Die Entscheidung fiel bereits davor. Wenngleich das Virus ein "Brandbeschleuniger" ist. Der Verkauf ist um 70 Prozent eingebrochen. Waren es zwischendurch bis zu 15 "Uhudla"-Verkäuferinnen und Verkäufer, so ist pandemiebedingt nur einer übriggeblieben: Lohmeyer, die "graue Eminenz" der Szene. Das ewige Auf- und Zusperren seines Reviers, der Lokale, habe ihm ebenso zu schaffen gemacht wie das Zurückdrängen des Bargelds. Heute zahle jeder Zweite mit Kredit- oder Bankomatkarte. "Es geht mir auf die Eier, wenn mir jemand sagt, er zahlt mit Kreditkarte, und ist so ein Knirps, der keine Ahnung von irgendwas hat."

Schwere Zeiten für Straßenzeitungen

Selbst wenn Corona vorbei ist: Das bargeldlose Zahlen wird bleiben. Zum Leidwesen der Straßenzeitungen und jenen, die davon profitieren. Gab es weltweit einmal mehr als 270 Straßenzeitungen, so sind es jetzt nur mehr 170, sagt Lohmeyer: "Sie werden immer weiter zurückgedrängt." Print habe einen schweren Stand.

Das Ende des "Uhudlas" sieht sein Herausgeber und Gründer Martin Wachter ganz unsentimental: "Die Nische ist schon zu. Irgendwann sollte ich eine Ruhe geben." Wachter ist 68 Jahre alt und lebt nach einer Asbestvergiftung seit 16 Jahren in Portugal. Von seiner Mindestpension und der Leidenschaft für Journalismus. Wachter war Journalist bei der "Volksstimme", die KPÖ half bei der "Uhudla"-Gründung. Die Asbestvergiftung holte er sich als Fliesenleger und Ofenbauer.

Zum Lamentieren hat er keinen Grund: "Ich verdiene mit meiner Mindestpension hier mehr als eine Krankenpflegerin im Spital, das ist traurig und entspricht nicht meinen Solidaritätsansprüchen." Der Mindestlohn liege in Portugal bei 705 Euro brutto, erzählt Wachter. Die Armut sei enorm: "Mehr Elend als in Portugal geht nicht, die sind trotzdem glücklich und zufrieden und jammern nicht so viel wie in Österreich."

Martin Wachter gründete den "Uhudla" vor 30 Jahren.
Foto: Mario Lang

Der "Uhudla" definiert sich als "älteste und rebellischste Straßenzeitung Österreichs". Und war immer schon etwas anders: linker, radikaler. Und schräg: So gehört etwa Wikipedia zu den "MitarbeiterInnen" der aktuellen Ausgabe. Im "Horoskop zur Glückseligkeit" tummeln sich Ameisenbär, Meeresgöttin, Schere, Single oder Tiger mit Tipps wie: "Für Raubtiere gibt's da nix Aufregendes zum Lesen. Du hast ein schönes Fell und brauchst sonst nix zum Anziehn."

"Augustin" hat sich verselbstständigt

Zuerst nur als Beilage konzipiert, ging aus dem "Uhudla" im Jahr 1995 der "Augustin" hervor. Er ist längst vom Baby zum großen Bruder mutiert. Wiens größte Straßenzeitung erscheint alle zwei Wochen mit einer Auflage von derzeit 20.000 Stück. Der "Uhudla" kommt auf 6.000 Exemplare und drei bis vier Ausgaben pro Jahr. Der "Augustin" kostet drei Euro, der "Uhudla" nur zwei. Jeweils die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkäuferin und den Verkäufer.

Der "Uhudla" ist derzeit als Genossenschaft organisiert. Die Bilanz war 2021 positiv. 2.200 Euro stehen auf der Habenseite. Während Wachter von der Algarve aus Layout und Gestaltung macht, orchestriert Lohmeyer den Vertrieb in Wien. Der eine braucht den anderen. Jetzt wollen beide nicht mehr. Nur online soll es auf uhudla.at weitergehen, denn Wachter und Lohmeyer haben noch viel zu sagen. Über Politik etwa. "Für ein kleines Land haben wir so viel Scheiße", so Lohmeyer. Nicht alles, was der SVA-Pensionist von sich gibt, ist zitierfähig. Und Wachter sagt, er wolle das politische Establishment weiter kritisieren.

Retro, ohne retro sein zu wollen

Die 115. Nummer ist die letzte Printausgabe und trägt den Titel "30 Jahre Uhudla. 50 Jahre Rebellion" mit dem Schwerpunkt "Die 68er werden alt". Von der Anmutung her könnte sie auch die erste sein. Denn der "Uhudla" steht für Kontinuität. Bis Mitte März will Lohmeyer die verbliebenen Exemplare verkaufen. Ein paar Hundert sind es noch. Dann ist Schluss. Lieber früher als später, Corona sei schließlich auch noch da: "Ich habe drei Impfungen, aber ich möchte es nicht provozieren. Ich bin ein alter Hund."

Ein Teil der "Uhudla"-Jubiläumsausgabe: "Die 68er werden alt".
Foto: Uhudla

Was bleibt, sind viele schöne Begegnungen, auf die Lohmeyer mit Stolz zurückblicken kann. Etwa als er vor gut fünf Jahren im Café Europa angesprochen wurde, ob er mit seiner bewegten Lebensgeschichte nicht Protagonist eines Dokumentarfilms sein wolle. Vom erfolgreichen Versicherungsmitarbeiter, der aufgrund einer Alkoholsucht vor dem Abgrund steht und mithilfe einer Straßenzeitung wieder Boden unter den Füßen bekommt. Der Titel lautete: "Einmal Leben und zurück". Lohmeyer schrieb das Drehbuch selbst und führte zu den Schauplätzen von damals, seiner Zeit auf der Straße.

Die Gefahr eines Pensionsschocks bestehe nicht, sagt Lohmeyer: "Ich habe noch so viele Pläne und möchte jetzt einen Psychothriller schreiben." Und: "Ich möchte schauen, dass ich gesund bleibe, alles andere ist egal." Er werde weiterhin seine Kaffeehausrunden drehen, aber in einer anderen Rolle: als Gast und nicht als Verkäufer. Man solle sich selbst nicht so wichtig nehmen und in den Vordergrund drängen, denn die Zukunft sehe ohnehin für alle gleich aus: "Zwei Meter lang, ein Meter breit und zwei Meter tief. Das ist so." (Oliver Mark, 18.2.2022)