Andy Warhol übersetze Munchs Ikone "Der Schrei" in poppige Siebdrucke.
Foto: © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by Bildrecht, Wien 2022

Der Schrei ist so schmerzhaft, so voller Leid und Traumata, dass man selbst brüllen möchte. Auf einem einsamen Steg kauert der nackte Körper einer Frau in Embryonalhaltung. Die Meereswellen rauschen, die Sonnenstrahlen blinzeln in die Kamera. Dann gellt der Schrei eine Minute lang durch Mark und Bein. Es wird wieder still.

In der Videoarbeit Homage to Edward Munch and All My Dead Children von 1998 liegt die britische Künstlerin Tracey Emin selbst auf dem Anlegesteg im norwegischen Åsgårdstrand. Es ist jene Landschaft, die der große Maler Edvard Munch als Kulisse für viele seiner Schlüsselwerke nutzte. Emin bezieht sich ganz direkt auf die düsteren und leidvollen Welten, die Munch in Ikonen wie Der Schrei erschuf, und verknüpft sie mit eigenen Erinnerungen an Abtreibung und Fehlgeburt und interpretiert Munch so neu. Ihr Schrei dringt wie ein Klagelied direkt unter die Haut.

Edvard Munch schuf mehrere Versionen der "Madonna". Diese rahmt er mit Spermien und skeletthaftem Embryo und verweist so auf Empfängnis.
Foto: Albertina Wien

Tracey Emin bis Andy Warhol

Mit diesem emotionalen Höhepunkt endet die Frühjahrsausstellung Edvard Munch. Im Dialog in der Albertina, die nun um genau ein Jahr verzögert öffnet. Emins Schreie hallen durch die letzten Räume – und bilden ein Echo zu Munchs existenzieller Metaphorik.

Wie stark dieser Wegbereiter der Moderne, radikale Maler und Vertreter des Expressionismus und Symbolismus, Einfluss auf das Werk zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen hat, wurde Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder durch ein Treffen mit Emin in den 1990er-Jahren bewusst. Das autobiografische Werk der Künstlerin ist so intensiv von den Themen in Munchs Bildern geprägt, wie erst vergangenes Jahr die Ausstellung Tracey Emin / Edvard Munch in der Royal Academy of Arts in London bewies. Bis vor Kurzem war diese auch im neuen Munch-Museum in Oslo zu sehen.

Dass sie mit dieser Faszination nicht allein ist, macht nun die umfangreiche Schau in Wien deutlich, indem sie Werke des 1863 geborenen Norwegers sieben Künstlern und Künstlerinnen der Gegenwart gegenüberstellt – und somit den brisanten Einfluss der ikonischen Werke auf Rezeptionen in zeitgenössischer Malerei belegt. Neben Emin finden sich Andy Warhol, Jasper Johns, Georg Baselitz, Miriam Cahn, Peter Doig und Marlene Dumas zur kollektiven Verehrung ein.

Tracey Emin verarbeitet in ihren Werken furchtbare Traumata. Wie bei Munch sind Schmerz und Leid omnipräsent.
Foto: Tracey Emin. All Rights Reserved / Bildrecht, Wien 2022

Inniges Verhältnis

Obwohl die Auseinandersetzung so unterschiedlich ausfällt – sei diese motivisch, formal oder thematisch –, eint sie alle doch ein gewichtiges Merkmal, das sie auch mit ihrem Idol verbindet: die Expression des Seelenlebens, das Herausstülpen des Innersten, die schier explodierenden Emotionen, die Expression von Leid, Einsamkeit, Krankheit. Willkommen im Club der Seelen!

Auch die Albertina selbst pflegt ein inniges Verhältnis zu dem Maler. Immerhin ist es die dritte Munch-Ausstellung seit der Neueröffnung des Museums. 2003 wurde sein Gesamtwerk beleuchtet, 2015 das druckgrafische Œuvre. Die neue Schau kann man als Fortsetzung dieser Tradition verstehen. Sie wirft einen Blick auf das Nachwirken im Jetzt.

Miriam Cahns intensive Gemälde sind voll geisterhafter Figuren. In "Madonna" nimmt sie Bezug auf Munchs "Pubertät".
Foto: Francois Doury

Für dieses Unterfangen wurde sogar die Dauerpräsentation der Sammlung vom zweiten in den ersten Stock verlegt. Die neue Ausstellung breitet sich auf der gesamten Etage aus und bietet den Werken ungewohnt viel Platz sowie eine luftige Hängung. Typisch hingegen sind die Künstlerinnen-Räume, die sich je einer Position widmen. Wie "Mini-Ausstellungen" sind diese in einer kleinen Munch-Retrospektive eingebettet, wie das kuratorische Team bestehend aus Dieter Buchhart und Antonia Hoerschelmann erklärt.

Diese räumliche Trennung wurde bewusst gewählt. Man wollte ein didaktisches Nebeneinander vermeiden, immerhin gehe es in der Ausstellung ja um keine direkten Übersetzungen von Munchs Werken, sondern um eigenständige Arbeiten, die für sich stehen.

Edvard Munch verarbeitete in seinem Werk "Das kranke Kind" den Tod seiner früh verstorbenen Schwester.
Foto: Tate / Tate Images

Geisterhaft und experimentell

Und das funktioniert hervorragend: Beginnend bei Munchs frühen Landschaften, Aktbildern und Schlüsselwerken wie Das kranke Kind, in dem Munch den frühen Tod seiner Schwester verarbeitet, landet man als Erstes bei der Schweizer Malerin Miriam Cahn. In ihren intensiven Großformaten geistern schemenhafte Wesen umher, die an Munchs augenlose Figuren erinnern. Wie sehr Cahns Madonna mit dem ikonischen Werk Pubertät des Malers zu tun hat, lässt das Original im nächsten Raum erahnen.

In seinem Hauptwerk Echo Lake greift der schottische Künstler Peter Doig nicht nur Grundthemen Munchs auf, sondern setzt diese auch in malerischer Weise um: eine leere Landschaft, zum Bersten voll mit Einsamkeit.

Georg Baselitz' auf den Kopf gestellten Bilder wurden von Munchs innovativen Ansätze beeinflusst. "Maler mit Fäustling" zitiert "Der Nachtwandler".
Foto: Albertinum | Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Elke Estel/Hans-Peter Klut

Ab den 1980er-Jahren wurde auch das Werk des deutschen Malerfürsten Georg Baselitz von Munchs Schaffen beeinflusst. Vor allem das Interesse innovativer künstlerischer Ansätze kann in den auf den Kopf gestellten Figuren erkannt werden. Beispielsweise zitiert das Werk Maler mit Fäustling unmittelbar Der Nachtwandler von Munch, der nach Marlene Dumas’ alienartigen Körpern und experimentellen Pinselstrichen einen Raum weiter bereits durch die Türöffnung späht.

Der zweite Teil der rund 130 Werke umfassende Ausstellung widmet sich fast ausschließlich (bis auf einen Kurzauftritt von Jasper Johns) dem druckgrafischen Werk von Munch und einem seiner größten Fans – Andy Warhol. Poppige Variationen in Pink, Neongelb und Orange wirken wie reduzierte Studien zu Munchs Lithografie der Madonna oder seinem Meisterwerk Der Schrei. Eine ganze Armee entsetzter Fratzen stimmt fürs Grande Finale zum gemeinsamen Chor an. (Katharina Rustler, 18.2.2022)