Die Impfpflicht wurde im vergangenen November aus der Not geboren – als riskanter, aber mutiger Versuch der Regierung und der Landeshauptleute, um die zu niedrige Impfquote in Österreich rasch anzuheben. Die Risiken dieser international fast einzigartigen Entscheidung sind seither allzu deutlich geworden, vor allem in den lautstarken Protesten und dem Wählerzulauf zur Antiimpfpartei MFG. Der Mut hat die Politik aber großteils verlassen.
Zwar wurde das Gesetz im Nationalrat mit großer Mehrheit beschlossen, aber seine Durchsetzung immer weiter verzögert und verwässert – auch auf Druck der Landeshauptleute, die hier schamlos Kindesweglegung betreiben. Die Folge: Die Zahl der Erstimpfungen ist seit der Ankündigung vor drei Monaten auf fast null gesunken. Denn weder fürchten die immer noch Ungeimpften Strafen, noch sehen sie irgendwelche Anreize, ihren Widerstand aufzugeben. Der Zorn über diesen Eingriff in die Grundrechte in weiten Bevölkerungskreisen ist hingegen nicht verflogen.
Impfpflicht verliert an Relevanz
Mit der Aufhebung der 2G-Regel verliert die Impfpflicht noch weiter an Relevanz. Und wie der deutsche Demokratieforscher Wolfgang Merkel bei der vom STANDARD moderierten "Europa im Diskurs"-Diskussion am vergangenen Sonntag im Wiener Burgtheater angemerkt hat, ist damit das entstanden, wovor der Schöpfer der österreichischen Verfassung, Hans Kelsen, stets gewarnt hat: eine unwirksame Rechtsnorm, die beliebig missachtet werden kann und damit die Autorität des Rechtsstaates untergräbt. Es ist der größtmögliche Schaden, den ein Gesetz anrichten kann.
Dass die Behörden in einem Monat mit Kontrollen und Strafen beginnen, glaubt kaum noch jemand, auch wenn es die Regierung nicht wagt, den Stichtag abzusagen, und die Verantwortung lieber auf eine weitere Expertenkommission abschiebt. Immer öfter ist davon die Rede, die Impfpflicht zu begraben, weil sie ihren Zweck ohnehin nicht erfüllt.
Wenn es nicht gelingt, der Impfpflicht Zähne zu verleihen, dann wäre das die beste Lösung. Aber Österreich würde damit die Chance vergeben, für eine drohende Gesundheitskrise einmal besser vorbereitet zu sein als andere Staaten. Denn die Gefahr, dass im nächsten Winter eine neue Virusmutation die Intensivstationen wieder füllt, ist real. Um das zu verhindern, sollten bis zum Herbst 90 Prozent der Bevölkerung vollimmunisiert und geboostert sein, mit bis dahin präziseren Impfstoffen. Dafür aber müsste spätestens im Mai die Zahl der Erstimpfungen deutlich steigen.
Werbekampagnen reichen nicht
Mit Werbekampagnen allein wird sich dieses Ziel nicht erreichen lassen, denn ohne akute Bedrohung ist Vorbeugung stets schwer zu vermitteln; und viele Ungeimpfte sind mit rationalen Argumenten kaum noch erreichbar. Aber Österreich hat das Instrument der Impfpflicht in der Hand und muss nur das konsequent umsetzen, was bereits Gesetz ist. Kontrollen und Strafen können um ein paar Wochen herausgeschoben werden, aber nicht zu lange.
Vielleicht wird die nun eingesetzte Viererkommission einen solchen weitsichtigen Weg vorschlagen und die Politik ihr folgen. Doch es ist eher zu befürchten, dass eine ängstliche Regierung aus der Impfpflicht eine Norm macht, deren Verletzung als typisch österreichisches Kavaliersdelikt hingenommen wird. Ein Gesetz, das wenig gegen die Pandemie bewirkt, aber für viel Ärger sorgt. (Eric Frey, 18.2.2022)