Wenn die Welt aus den Fugen ist: ein Filmstill aus der ersten Episode von "Station Eleven".

Foto: HBO Max

In Zeiten einer schlimmen Pandemie einen Roman über eine noch viel schlimmere Pandemie zu lesen, werden manche für masochistisch halten. Ich selbst empfand es als befreiend und lehrreich. Es stellte sich die Erkenntnis ein: Es hätte schlimmer kommen können. Doch wurde diese Überzeugung kurz darauf von der düsteren Einsicht durchkreuzt, dass es ja tatsächlich irgendwann noch viel schlimmer kommen könnte.

Für solch ambivalente Emotionslagen empfiehlt die Lebenshilfeliteratur, sich auf positive Gedanken und den Augenblick zu konzentrieren. Das gelang mir einigermaßen. Ich fühlte mich zunehmend glücklich, dass die Erde nicht von nahezu unausweichlich todbringenden Influenzaviren kontaminiert wurde, die aus Georgien zu uns gelangten, sondern bloß mit weniger schrecklichen Coronaviren, die von chinesischen Tiermärkten stammten und durch Gesichtsmasken und Impfungen ein Stück weit kontrolliert werden können.

Emily St. John Mandel, "Station Eleven. Das Licht der letzten Tage". Aus dem Englischen von Wibke Kuhn. 15,50 Euro / 416 Seiten. Ullstein, Berlin 2022 (Neuauflage)
Cover: Ullstein

Die "Georgische Grippe" stellt den alles beherrschenden Hintergrund von Emily St. John Mandels Roman Station Eleven dar, der in seiner deutschen Übersetzung Das Licht der letzten Tage betitelt ist. Darin schildert die kanadische Schriftstellerin, wie tödliche Influenzaviren mit Passagierflugzeugen von Georgien aus zunächst nach Toronto gelangen und letztendlich mehr als 99 Prozent der Menschheit vernichten. Ist jemand dem Virus ausgesetzt, erkrankt er innerhalb der nächsten drei bis vier Stunden und ist nach ein oder zwei Tagen tot.

Influenza-Apokalypse

Die US-amerikanische Originalausgabe des Romans erschien 2014, sechs Jahre vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie. Die Romanhandlung ist vor, während und nach der Influenza-Apokalypse angesiedelt und wechselt zwischen den verschiedenen Zeitebenen. Mandel erhielt für Station Eleven den britischen Arthur C. Clarke Award für Science-Fiction-Literatur und war für den US-amerikanischen National Book Award nominiert. Der Roman wurde verfilmt und ist seit Dezember 2021 auf den Streamingdiensten HBO Max / Starzplay als Miniserie zu sehen.

In der Eingangsszene des Romans stirbt der renommierte Schauspieler Arthur Leander an einem Herzinfarkt, während er in Torontos Elgin Theatre als König Lear in Shakespeares gleichnamigem Stück auf der Bühne steht. Ein achtjähriges Mädchen namens Kirsten, das auf der Bühne eine kindliche Version von Lears Tochter Cordelia verkörpert, erlebt seinen Tod aus nächster Nähe. Noch am selben Abend bricht in Toronto die Georgische Grippe aus.

Die Georgische Grippe

Einige Kapitel und 20 Jahre später zieht Kirsten als Mitglied der Traveling Symphony, einer Truppe fahrender Schauspieler und Musikerinnen, in der Gegend des Lake Michigan durch die menschenleere Landschaft. Zu Kirstens Habseligkeiten gehören zwei Bände einer Graphic Novel namens Station Eleven, die von Leanders erster Frau verfasst wurden.

In gleißender Sommerhitze ist die Truppe auf dem Weg nach St. Deborah by the Waters, einer der Ansiedlungen, in denen einige der Menschen, die die Georgische Grippe überlebt haben, zusammenkamen, in leerstehende Wohnhäuser und Supermärkte einzogen und nun um ihr Überleben kämpfen.

Die Siedlung erweist sich als gefährlicher Ort. Ein selbsternannter Prophet hat die meisten der in St. Deborah lebenden Menschen mit einer "verrückten Theologie" in den Bann gezogen und seine Gegner in die Flucht getrieben. Das Überleben der Katastrophe interpretiert der Prophet als Zeichen der göttlichen Auserwählung: "Wir wurden gerettet, weil wir das Licht sind. Wir sind die Reinen." Nach der gelungenen Aufführung von Shakespeares Sommernachtstraum verlässt die Traveling Symphony den Ort auf schnellstem Wege.

Alles organisatorisch Notwendige

Die Traveling Symphony verfügt über sieben Pferde und drei alte Wohnwagen, zusammengetragene Bühnenrequisiten und aus gefundenen Kleidern gestaltete Kostüme, abgegriffene Texthefte von Shakespeares Dramen und eine Dirigentin. Die Voraussetzungen für Musiker und Schauspielerinnen, eine Aufführung zustande zu bringen, sind nicht ideal, aber real gegeben.

In Anlehnung an den deutschen Jesuiten, Theologen und Sozialphilosophen Oswald von Nell Breuning (1890–1991), der als Nestor der katholischen Soziallehre gilt, lässt sich dieser Sachverhalt kurz und knapp so ausdrücken: Um das Gemeinwohl der Traveling Symphony steht es halbwegs gut.

Nell-Breuning versteht das Gemeinwohl in diesem Fall als instrumentell-organisatorischen Dienstwert: Ein Verein, sei es ein Schachklub, eine Singgruppe oder eine Theatertruppe, müsse entsprechend organisiert sein. Er brauche einen Raum, Sachmittel und Funktionäre.

Dem Jesuiten zufolge dienen diese Bedingungen den Vereinsmitgliedern dazu, Schach oder Theater zu spielen oder gemeinsam zu singen, und stellen deshalb das Gemeinwohl des Vereins dar. Ist nämlich alles organisatorisch Notwendige vorhanden "und in guter Ordnung, dann steht es wohl um den Verein", stellt Nell-Breuning fest. "Darum bezeichnen wir die Verwirklichung von all diesem als sein Gemeinwohl."

Instrumentelles Gemeinwohl

Ein solch instrumentelles Gemeinwohlverständnis beschränkt sich nach der katholischen Sozialethik nicht auf kleinere Gemeinschaften, sondern gilt auch und vor allem für Gesellschaften und Staaten: Als Gemeinwohl werden demnach jene Voraussetzungen und Rahmenbedingungen bezeichnet, die es Einzelnen und Gruppen ermöglichen, ihr eigenes Leben in Gemeinschaft mit anderen gut und zufrieden zu gestalten.

Zahlreiche Menschen assoziieren den Begriff des Gemeinwohls mit der Einschränkung individueller Freiheit. Meine eigene Freiheit endet dort, haben sie gelernt, wo die Freiheit des anderen beginnt. Diese Feststellung ist nicht grundlegend falsch, aber sie ist einseitig und missverständlich. Denn in Wahrheit beginnt meine Freiheit dort, wo andere die Basis dafür geschaffen haben.

Unsere persönlichen Möglichkeiten beruhen auf Voraussetzungen, die uns familiär und gesellschaftlich vorgegeben sind: kein Heranwachsen ohne elterliche Fürsorge, keine qualifizierte Bildung ohne hochwertige Schulen, kein Wohlstand für alle ohne entsprechend hohe Besteuerung der Reichen.

Riesige Infrastruktur

Unter Corona-Bedingungen gilt besonders: keine adäquate medizinische Versorgung ohne Krankenversicherung, keine Prävention und keine Therapien ohne evidenzbasierte medizinische Forschung, keine ausreichende Betreuung im Krankheitsfall ohne gut organisiertes Gesundheitswesen, kein Respekt vor staatlichen Gesetzen und politischen Maßnahmen ohne nachvollziehbare Argumentation vonseiten der Politik und inhaltliche Konsistenz der Regeln.

Nell-Breuning zufolge kann es keinen gut funktionierenden Staat ohne zivilgesellschaftliches Engagement seiner Bürger geben, "aber auch keine politisch engagierten, staatsbejahenden Bürger ohne einen Staat, der dieses Engagement wert ist."

Kurt Remele, "Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht. Die ethische Wiederentdeckung des Gemeinwohls". 20,60 Euro / 204 Seiten. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 2022 (2. Auflage)
Cover: Grünewald

Als Arthur Leander während der Aufführung von King Lear zusammenbrach, eilte ein im Publikum sitzender Sanitäter namens Jeevan Chaudhary als Erster auf die Bühne. Die Tage danach verbrachte Jeevan in der Hochhauswohnung seines Bruders am Stadtrand von Toronto. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Georgische Grippe das Leben in der Stadt zum Stillstand brachte.

Angesichts der ungeheuren Katastrophe ertappte sich Jeevan bei der Überlegung, wie menschlich die moderne Welt eigentlich gewesen war: "Sie war niemals unpersönlich gewesen. Es hatte immer eine riesige, störungsanfällige Infrastruktur von Menschen gegeben, die um uns herum arbeiteten. Doch sobald die Leute nicht mehr in die Arbeit gehen, kommt das ganze System zum Erliegen."

Diese Infrastruktur ist unser Gemeinwohl. Obwohl es nicht ohne Mängel ist, darf man dankbar dafür sein. Will man gemeinwohlorientiert handeln, ist man jedoch verpflichtet, die Bedingungen unseres Zusammenlebens so zu verändern, dass sie wirklich allen ein guten Leben ermöglichen: bisher Ausgegrenzten wie Nachgeborenen, Nahen wie Fernen, Menschen wie allen anderen Kreaturen. (Kurt Remele, ALBUM, 19.2.2022)