Eine wahre Geschichte, ein historisches Ereignis erwählte sich Emma Stonex, 1983 in der englischen Grafschaft Northamptonshire geboren, jahrelang als Lektorin in einem Buchverlag tätig, zum Thema ihres ersten Romans, der unter ihrem echten Namen erscheint. Zuvor hat sie bereits neun Bücher unter drei unterschiedlichen Pseudonymen veröffentlicht.

Taucht in ein Geflecht von Geheimnissen ab: Emma Stonex.
Foto: Melissa Lesage

Im Dezember 1900 verschwand auf den Flannan Isles, die zu den Äußeren Hebriden am Westrand Schottlands gehören, die Besatzung eines Leuchtturms. Spurlos. Die schwere Eingangstür war von innen verschlossen, die Betten waren nicht gemacht, eine Uhr war stehengeblieben und nicht aufgezogen worden. Dafür hatte jemand die Leuchten des Leuchtturms auf Hochglanz poliert.

Eine Untersuchung ergab nichts. Nichts Greifbares. War es eine Monsterwelle, die alle drei Wärter ins Meer riss? War es eine Seeschlange? Oder war einer in dem Leuchtturm auf dem winzigen, ansonsten unbewohnten Eiland verrückt geworden, hatte die beiden anderen getötet und war danach in die See gesprungen?

Das Mysterium entwickelte sich zu einer Volkssage, 1979 entstand eine Kammeroper, die britische Kultserie Doctor Who griff es in einer Episode auf, die Band Genesis schrieb den Song The Mystery of Flannan Isle Lighthouse. 2019 wurde auch im Horrorfilm Der Leuchtturm mit Willem Dafoe und Robert Pattinson auf das Flannan-Turm-Rätsel angespielt.

Ein Rätsel

Stonex verschiebt dies sagenhaft Irisierende nicht in die Gegenwart. Sie siedelt ihre Handlung vielmehr in den Jahren 1972 und 1992 an. 1972: Der Maiden-Leuchtturm 18 Meilen vor Land’s End, Englands südwestlichster Landspitze. Drei Männer mit ganz unterschiedlichen Biografien und Vergangenheiten bilden die Turmbesatzung. Nach Weihnachten soll einer, der Jüngste, abgelöst werden, was sich dann um einen Tag verschiebt.

Als das Entsatzboot mühevoll angelandet ist am steinigen Fuß des Turms, muss erst die schwere Eingangstür aufgebrochen werden. Sie ist merkwürdigerweise von innen verriegelt. Dann findet sich niemand im Turm, auch keine Leichen. Auch keine Blutspuren.

Vielmehr ist ganz oben, im obersten Stock, im Raum, der als Esszimmer dient, der Tisch makellos gedeckt, allerdings nur für zwei. Zudem sind im Turm zwei Uhren zur exakt selben Zeit, um Viertel nach neun, stehengeblieben. Ein Rätsel. Zurück bleiben zwei Witwen und eine Verlobte. Die Betreibergesellschaft schiebt die Schuld intern auf den Jüngsten, der im Gefängnis gesessen und eine Strafe wegen schwerer Körperverletzung verbüßt hatte.

Zwanzig Jahre später taucht ein Autor maritimer Abenteuerromane auf. Er will endlich das Rätsel lüften. Nacheinander sucht er die drei Frauen auf, die scheu bis zurückhaltend bis abweisend auf ihn und seine Fragen reagieren. Ganz unterschiedlich haben sie seelisch und emotional das Verschwinden der Männer zwanzig Jahre zuvor verarbeitet. Oder eben nicht verarbeitet.

Rasch stellt sich heraus, dass keine Frau dem Rechercheur die Wahrheit sagt, jedenfalls nicht die ganze, dass sie manches unterschlagen, anderes schönfärben oder passiv-aggressiv agieren. Die eine verharrt starr in der Vergangenheit, ihrer Illusion einer Vergangenheit, die faktisch keineswegs die war, die sie zu erinnern unternimmt.

Schuld und Traumata

Emma Stonex, "Die Leuchtturmwärter". Übersetzt von Eva Kemper. 22,70 Euro / 432 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021

Die Zweite, die Jüngste, hat geheiratet, Kinder bekommen, die Ehe, die sie führt, ist allerdings alles andere als gut und nicht ansatzweise glücklich. Und die Dritte, die Frau des einstmaligen Oberwärters, der ob seines Status und seiner untadeligen Reputation weithin Ansehen entgegenschlug, ist auf halber Strecke zwischen Arroganz und Kommunikationsbettelei steckengeblieben. Und dann erweist sich, dass auch der Autor über sich selbst nicht die ganze Wahrheit offengelegt hat.

Eine geschickte wie spannungsreiche Variation des "locked-room mystery", des Rätsels um einen verschlossenen Raum, klassisches Motiv des britischen Kriminalromans zwischen 1925 und 1945 – und mit am raffiniertesten gehandhabt von einem Amerikaner, vom hochproduktiven John Dickson Carr in Bänden wie Die Tür im Schott, Der verschlossene Raum oder Die schottische Selbstmord-Serie –, ist dies.

Deutlich realisiert man, dass Stonex literarisch kundig und raffiniert mit dem Grundmuster hantiert. Das Rätselhafte und Kriminalistische ihres als Schmöker einsetzenden Romans jedoch diffundieren lässt in Lügen, in Selbst-, Lebens- und Liebeslügen, in Einsamkeit, Isolation, Verzweiflung und Depression, in Schuld und Traumata, in Paranoia, Wahn und Leere. Die Leuchtturmwärter: am Ende eine existenzialistische Studie über Gefühle und Beziehungen. (Alexander Kluy, 19.2.2022)