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Wolodymyr Selenskyj in militärischem Grün – eine Inszenierung, die den Ernst der Lage für die Ukraine verdeutlicht.

Foto: AP / Ukrainian Presidential Press Office

Ende 2018, wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl in der Ukraine, als bereits das halbe Land über die Kandidatur Wolodymyr Selenskyjs spekulierte, kokettierte dieser selbst noch in humoristischer Form mit dem Thema: "Ich habe eine juristische Ausbildung – und das ist ein Plus. Ich habe aber keine politische Erfahrung – und das ist ein großes Plus", sinnierte er bei einem Auftritt unter dem zustimmenden Gelächter des Publikums über eine Kandidatur.

Der Witz brachte Selenskyj nicht nur die Lacher, er brachte ihm im Endeffekt auch die Präsidentschaft ein. Das Versprechen, alles anders, alles besser zu machen als seine Vorgänger, nahmen die Ukrainer ihm, dem Außenseiter, dem Nichtpolitiker, ab. Tatsächlich hat Selenskyj einen neuen Stil in die ukrainische Politik gebracht. Doch seine expliziten Wahlversprechen – die Korruption auszurotten und Frieden im Donbass zu bringen – konnte der 44-Jährige bisher nicht einlösen.

Im Gegenteil: Die Ukraine stand noch nie so nah vor einem großen Krieg mit dem Nachbarn Russland wie jetzt. Bis zu 150.000 russische Soldaten sollen an der ukrainischen Grenze stehen.

Die USA hatten sogar schon den 16. Februar als Datum für einen möglichen Einmarsch genannt, ihre Botschaft aus Kiew nach Lwiw evakuiert und eine offizielle Reisewarnung für die Ukraine ausgesprochen. Dem schlechten Beispiel folgten dutzende andere, vorwiegend westliche Regierungen; aber auch Russland verringerte seine diplomatische Präsenz.

Massenpanik verhindert

Immerhin: Selenskyj ließ sich von der allgemeinen Panik nicht anstecken: Er widersprach den Geheimdienstberichten, pfiff die außer Land geflohenen Oligarchen zurück und rief just den 16. Februar zum nationalen Feiertag aus.

Die wirtschaftlichen Verluste, die die Ukraine durch die Horrormeldungen erlitt, konnte er nicht abwenden, aber zumindest eine Massenpanik verhindern. Durch seine Ansprachen gelang es ihm sogar, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Ukrainer wieder zu stärken. Sein rhetorisches und schauspielerisches Talent kam ihm dabei zugute.

Woher kommt dieses Talent? Selenskyj wurde 1978 in einer ukrainisch-jüdischen Familie im ostukrainischen Krywyj Rih geboren. Seine Mutter Rimma ist ehemalige Ingenieurin, sein Vater Alexander Mathematiker und Programmierer und hat als Unidozent gearbeitet. Mehrere Jahre lang arbeitete er in der Mongolei, war am Aufbau des Kupferbergwerks in Erdenet, der zweitgrößten Stadt des Landes, beteiligt. Der kleine Wolodymyr wurde in der Mongolei eingeschult, kehrte aber bald in die Ukraine zurück.

Traum von Diplomatie

In der Schule spielte Selenskyj Gitarre in der Schulband, doch zunächst träumte er nicht von der Bühne, sondern von einer Diplomatenkarriere, wollte sogar an die Moskauer Diplomatenschule MGIMO. Schlussendlich studierte er dann Jus am heimischen Wirtschaftsinstitut. In seiner Unizeit zeigte sich sein komödiantisches Talent. Bei KWN, einem schon zu Sowjetzeiten beliebten Comedy-Studierendenwettbewerb, kam der nur 1,73 Meter lange Selenskyj groß heraus.

Er machte sein Hobby zum Beruf, gründete die Comedytruppe und Produktionsfirma Kwartal 95 und wurde zum gefragten Entertainer, Showmoderator und später auch komödiantischen Filmschauspieler, der auch in mehreren russischen Produktionen mitwirkte.

Die Auftritte von Kwartal 95 glänzten durch den Witz und auch die Schärfe, mit der die Truppe die aktuellen politischen Verhältnisse im Land und führende Politiker wie Präsident Petro Poroschenko und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko satirisch auf die Schippe nahm. Übrigens auch nach 2014 noch stets in russischer Sprache.

Seine größte Rolle

Die größte Rolle des zweifachen Familienvaters (Tochter Alexandra wurde 2004 geboren, Sohn Kyrill 2013) aber war die des erudierten Geschichtslehrers Wassyl Holoborodko in der Serie Diener des Volkes, der eher zufällig ukrainischer Präsident wird und fortan gegen Korruption und Misswirtschaft in der Ukraine, gegen die Bevormundung des Internationalen Wirtschaftsfonds sowie zahlreiche Intrigen in seinem Umfeld ankämpfen muss. In der Serie gelingt dies dem unbedarften Lehrer trotz einiger Fauxpas am Ende.

Angesichts der jahrzehntelangen Kleptokratie, unter der die Ukraine litt, war die Sehnsucht im Land nach einem ehrlichen und prinzipienfesten Holoborodko so groß, dass Darsteller Selenskyj dadurch tatsächlich ins Präsidentenamt kam. Die Ukrainer nahmen ihm die Rolle ab. Als er in der Stichwahl gegen Poroschenko 73,22 Prozent der Stimmen auf sich vereinte, war dies ein deutliches Signal dafür.

Schein und Realität

Das Problem ist nur: Selenskyj ist nicht Holoborodko. Seit Jahren gibt es Gerüchte über die Beziehungen zu Ihor Kolomoiskyj, einem der dubiosesten Oligarchen der Ukraine, bei dessen Fernsehsender 1+1 Selenskyj unter Vertrag stand. "Warum nehme ich kein Geld bei Kolomoiskyj? Weil er mir keins anbietet", spottete Selenskyj selbst über diese Gerüchte.

Doch aus den von einem internationalen Journalistennetzwerk zusammengetragenen Pandora Papers geht hervor, dass er und seine Partner bei Kwartal 95 seit 2012 über Offshore-Firmen 40 Millionen Dollar von Kolomoiskyj erhalten haben. Einen Teil der Einnahmen hat der Showman demnach in Londoner Immobilien angelegt, einige Offshore-Firmen vor seiner Präsidentschaft an Sergij Schefir übertragen, einst Partner bei Kwartal 95 und inzwischen Präsidentenberater. Auch Selenskyjs Ehefrau Elena soll, Stand 2021, immer noch Gewinne aus den Offshore-Aktiva beziehen.

Das alles hat der Popularität Selenskyjs geschadet. Jüngsten Umfragen zufolge liegt sein Rating nur noch bei 25,1 Prozent, knapp vor Ex-Präsident Poroschenko (21,8 Prozent). Eine Wiederwahl, die Selenskyj allem Anschein nach anstrebt, ist damit alles andere als gesichert.

Blutende Wunde Donbass

DER STANDARD

Ein weiteres Problem Selenskyjs besteht nämlich darin, dass er nicht den erhofften Frieden im Donbass bringen konnte. Selenskyjs anfänglicher Elan ist schnell verpufft. Tatsächlich konnte er zu Beginn seiner Präsidentschaft einige Initiativen zur Deeskalation lancieren. Es gab Absprachen über Gefangenenaustausche und die Demilitarisierung einzelner Frontabschnitte. Mit der Vereinbarung, dass der Schießbefehl nicht mehr auf Kommandanten-, sondern nur auf höchster Ebene getroffen werden darf, erreichte er gar eine lange Feuerpause.

Doch weitergehende Fortschritte im Minsker Abkommen blieben aus, und Schritt für Schritt lösten sich dann auch die anderen Vereinbarungen wieder auf. Inzwischen wird wieder täglich geschossen, was Russland einen Vorwand liefert, als selbsternannte "Schutzmacht der russischsprachigen Bevölkerung" Stärke zu demonstrieren.

Selenskyj selbst hat sich in der Zeit auch gewandelt. Statt echter Friedensbemühungen war zuletzt verstärkt eine kriegerische Rhetorik zu vernehmen. Der Präsident präsentiert sich auch immer wieder in Uniform und Tarngewand als Oberbefehlshaber. Dabei ist eine militärische Lösung der Donbass-Frage für die Ukraine tabu. Wichtiger wäre es, die diplomatischen Bemühungen zu verstärken und mit den Ressourcen die sozialen Probleme der Bevölkerung zu lösen. (André Ballin, 19.2.2022)