Nicht etwa nur Besucher aus dem Westen – der französische Präsident Emmanuel Macron, der deutsche Kanzler Olaf Scholz – werden an Wladimir Putins mittlerweile berühmtem Sechs-Meter-Tisch auf größtmögliche Distanz gehalten: Auch der iranische Präsident Ebrahim Raisi wurde bei seinem Besuch in Moskau am 22. Jänner am entfernten Tischende platziert. Dabei ging es bei diesem Treffen, anders als mit Macron und Scholz, ganz entspannt um eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Moskau und Teheran, im wirtschaftlichen, aber auch im strategischen Bereich, wie es danach hieß.
Für den russischen Präsidenten mag mit dem Amtsantritt des aus dem Hardlinerlager stammenden Raisi im Sommer 2021 einiges einfacher geworden sein: Er hat es nicht mehr mit "zwei Iran" zu tun, wie er es einmal selbst formulierte.
Während Raisis Vorgänger Hassan Rohani einen pragmatischen Ausgleich mit dem Westen suchte, hat die jetzige iranische Regierung stets betont, dass das nicht zu ihren Politikprioritäten gehört. Aber auch der Slogan der frühen Islamischen Republik "Weder Osten noch Westen" hat ausgedient. Teheran schaut heute definitiv ostwärts.
Ein Scheitern der Atomverhandlungen in Wien könnte diese Ausrichtung sogar noch vertiefen. Dennoch würde kein Beobachter ernsthaft behaupten, dass Russland die Gespräche in Wien zu sabotieren versuchen würde. Auch nicht seit sich die Krise um die Ukraine immer dramatischer aufbaut. Man könnte meinen, die Wiener Verhandler arbeiteten in einer Art Blase. Während sich die US-russische Front verhärtet, treffen sich in Wien die Verhandlungsleiter der USA und Russlands zum "konstruktiven" Gespräch.
Russische Rolle im Schlaglicht
Ganz neu ist das nicht: Das Wiener Atomabkommen von 2015, um dessen Wiederherstellung es heute geht, wurde verhandelt, während sich Russland 2014 die Krim schnappte. Heute steht die russische Rolle vielleicht mehr im Scheinwerferlicht. Dafür ist nicht zuletzt ein Mann verantwortlich, der aus dem Schatten seines Diplomatenberufs in die Öffentlichkeit getreten ist: Mikhail Ulyanov, russischer Botschafter bei den Internationalen Organisationen in Wien, unter anderem bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA).
Ulyanov ist ein eifriger Twitterer, und er schreibt auch auf Englisch. Er kommuniziert gerne. Vor dem Grand Hotel, in dem bis Juni die Verhandlungen stattfanden – das Hotel Palais Coburg ist weniger günstig –, warteten die Medien sehnlichst darauf, dass der Diplomat zu seinen Rauchpausen erschien. Ulyanov ist zu einer Art Orakel geworden, Stimmungsbarometer und Informationsquelle.
Und wenn Ulyanov "breaking news" twittert – wie im September die Nachricht, dass IAEA-Chef Rafael Grossi nach Teheran reist –, dann weiß man, dass er dabei selbst die Finger im Spiel gehabt hat. In einem Artikel in Foreign Policy wird ihm zugeschrieben, dass er die damalige Inspektionskrise zwischen Teheran und der IAEA entschärft und damit den ganzen Verhandlungsprozess um das Wiener Atomabkommen gerettet hat.
Gemeinsame Interessen
Aber warum macht Russland das? Es scheint ein Widerspruch in sich: Auf geopolitischer Ebene arbeitet Russland darauf hin, den US-Einfluss zu schwächen – in Wien arbeitet Russland gemeinsam mit den USA an einem Aspekt der internationalen Sicherheitsarchitektur. Das hat auch US-Außenminister Antony Blinken bereits anerkannt.
Zur Verhandlung stehen der Wiedereintritt der USA in den JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action, so heißt der Atomdeal offiziell) und die Rückkehr des Iran zu dessen Regeln, auf Wunsch der US-Regierung von Joe Biden, der den unter Donald Trump 2018 erfolgten Austritt rückgängig machen will.
Vor allem Atomdealgegner nehmen Russland den ehrlichen Mittelsmann nicht ab, sondern beschuldigen es, den Iranern beim Durchdrücken ihrer Vorstellungen zu helfen. Es stimmt, dass Russland für vieles, was aus Teheran kommt, Verständnis zeigt: nicht zuletzt für das Misstrauen gegen die USA, die ja bereits einmal, obwohl der Iran den JCPOA einhielt, austraten. Laut Ulyanov sind die Forderungen nach US-"Garantien" verständlich.
Andererseits versuchte er, Teheran die Idee eines "Interimsdeals", falls der große Deal nicht klappt, nahezubringen – womit er scheiterte. Auch dass der Iran seine anfängliche Position aufgab, wonach zuerst überhaupt nur über die Aufhebung der US-Sanktionen verhandelt werden sollte – und nicht gleichzeitig über die notwendigen iranischen Schritte –, wird Russlands Einfluss zugeschrieben.
Es gibt Tweets von Ulyanov, aus denen Ungeduld mit Teheran herauszulesen ist, vor allem als sich im Herbst die Entscheidung hinzog, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.
Destabilisierung der Golfregion
Man könnte so sagen: Vielleicht will ja Russland wirklich, dass die Iraner einen für sie günstigen Deal bekommen. Aber Russland arbeitet dafür, dass es diesen Deal überhaupt gibt, der erst einmal die akute Gefahr eines iranischen nuklearen "breakout" bannen würde.
Ein Zusammenbruch der Verhandlungen könnte das Abgleiten des Iran in eine unklare nukleare Zukunft bedeuten – und damit eine Destabilisierung der Golfregion und darüber hinaus. So einfach es klingt: Russland und die USA teilen das Interesse an der nuklearen Nichtverbreitung (Non-Proliferation).
Das alles hindert Ulyanov nicht daran, sich zur Ukraine-Krise beißend zu Wort zu melden: "Wo ist die Invasion", twitterte er am Mittwoch. "Irgendeine Entschuldigung dafür, Spannnungen anzuheizen und die Weltöffentlichkeit in die Irre zu führen? Eine Schande!"
Auch in Teheran selbst ist die russische Rolle in Wien Thema: Vor ein paar Tagen wurde in einem (später entschärften) Tweet eines iranischen Beobachters sogar insinuiert, dass sich alle – also auch Russland (und China) – der US-Position zugeneigt hätten. "Ulyanov ist nicht Irans Emissär", ließ ihm die Jomhouri Eslami ausrichten. Der Verweis auf die guten Beziehungen Russlands zu Israel fehlt in dieser Diskussion ebenfalls nicht.
Beziehungen zu Israel und Arabern
Und natürlich hat Moskau Interesse daran, die Beziehungen zum Iran mit jenen zu Israel, aber auch zu den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien auszubalancieren. Auch bei Raisis Besuch in Moskau wuchsen die Bäume nicht in den Himmel: So steht etwa der Verkauf von S-400-Raketenabwehrsystemen an Teheran momentan nicht auf dem Programm. Im Energiesektor sind der Iran und Russland Konkurrenten, in Syrien haben sie gemeinsame taktische, aber unterschiedliche langfristige Ziele.
Mit China hat der Iran ein auf 25 Jahre angelegtes Strategisches Kooperationsabkommen abgeschlossen. Das steht mit Russland noch aus. Gemeinsam hielten die drei Länder im Jänner im Indischen Ozean ein Marinemanöver ab, und Russland und China haben dem Iran im Vorjahr die Aufnahme als Beobachterstaat in die Shanghai Cooperation Organisation ermöglicht. Sie arbeiten daran, dass der Blick des Iran gegen Osten gerichtet bleibt. (Gudrun Harrer, 19.2.2022)