Tina Weirather: "Ganz viele motzen, aber wenn ich sie nach ihrer Vision frage, kommt oft nur ganz wenig."

Foto: GEPA pictures/ Matic Klansek

Mikaela Shiffrin sorgt für einen Tabubruch im Skisport. Nach ihren Ausfällen bei den Winterspielen spricht die Alpinläuferin offen über ihre Selbstzweifel. Die Liechtensteinerin Tina Weirather ist als Expertin für das Schweizer Fernsehen vor Ort und hat die US-Amerikanerin beobachtet.

STANDARD: Wie haben Sie Mikaela Shiffrin in den letzten zwei Wochen erlebt?

Weirather: In den ersten Tagen in China fuhr sie im Training abartig gut. Sie ist sogar den Jungs davongefahren. In den Rennen ist sie vom Übermenschen zum Menschen geworden.

STANDARD: Worauf führen Sie das zurück?

Weirather: Auf der Rennpiste sind die Schneeverhältnisse anders. Ihr Ausrüster Atomic hatte dort mehr Probleme als andere. Jetzt hat es auch Shiffrin einmal erwischt. Sie ist dann so ehrlich und sagt auch, dass sie sich jetzt hinterfragt.

STANDARD: Dafür erhält Shiffrin Kritik, aber auch Lob.

Weirather: Ich finde sie bemerkenswert. Jeder hat Zweifel. Die meisten sprechen das nicht laut aus. Damit machst du es ja nur schlimmer. Jeder Journalist spricht dich wochenlang darauf an: Bist du jetzt immer noch mental blockiert? Dadurch wird es selbsterfüllend. Zum ersten Mal in ihrer Karriere steckt sie wegen Eigenversagen in einem Tief. Ich bin gespannt, wie sie damit umgeht.

STANDARD: Lara Gut-Behrami brach im vergangenen März einen Lauf nach wenigen Toren ab, weil sie mental ausgelaugt war. Wurde ihre Entscheidung respektiert?

Weirather: Sie erfuhr keine Unterstützung. Das Problem war, dass sie im Zielgelände ohne ein Wort davonlief, so wurden alle möglichen Interpretationen verbreitet. Felix Neureuther sprach von Arbeitsverweigerung. Ein paar Stunden später gab sie ein tolles Interview. Sie sagte, sie war leer, hoffte aber auf das Adrenalin beim Start. Es kam nicht, sie schwang ab. Wenn sie es sofort gesagt hätte, wäre nichts passiert. Jeder hätte gesagt: Hut ab.

STANDARD: Sie hatten selbst ein Rennen, bei dem Sie auf einen Start verzichteten.

Weirather: Es war in Garmisch 2020. Mein Sponsor lud zu einer Fanreise, 150 Leute aus Liechtenstein sind gekommen, um mich fahren zu sehen. Ein Riesentamtam. Am Renntag wachte ich mit einem schlechten Gefühl auf und dachte: In dieses Hotelzimmer werde ich heute nicht mehr zurückkommen.

STANDARD: Wie gingen Sie in den Tag?

Weirather: In Cortina 2010 hatte ich schon einmal dieses Gefühl. Damals riss ich mir das Kreuzband. Ich schwor mir, künftig mehr auf mich zu hören. Ich fuhr noch auf den Berg und hoffte, das Gefühl würde verschwinden. Tat es aber nicht. Dann sagte ich meinem Trainer, was in mir vorgeht.

STANDARD: Wie reagierte er?

Weirather: Er fragte mich, was ich den Medien sagen möchte. Er warnte mich, es werde mühsam, wenn ich zugebe, dass ich mental nicht fit bin. Der einfache Weg wäre gewesen zu sagen, ich hätte einen Hexenschuss oder mir sei übel. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, aber da musste ich durch.

STANDARD: Was hat Sie dazu bewogen, über Ihre Zweifel zu sprechen?

Weirather: Weil es vielleicht irgendwo auf der Welt einen Athleten gibt, der auch ein schlechtes Gefühl hat. Und der sich nicht verletzt, weil er meine Geschichte kennt, und deshalb auch auf seinen Start verzichtet. Das Feedback war übrigens echt gut. Ich traf meine Sponsoren im Ziel, sie respektierten die Entscheidung. Es war alles okay.

STANDARD: Hatten Sie ein Ritual, mit Druck fertigzuwerden?

Weirather: Akzeptanz. Ja, mir war vor Rennen übel. So sehr, dass ich mich übergeben könnte. Aber das musste so sein, weil ich so gut fuhr, dass es um den Sieg geht. Ich habe unter extremem Druck am besten abgeliefert. Es gab Schlüsselmomente in meiner Karriere, von denen ich gezehrt habe.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel?

Weirather: Vor einem Rennen fuhr ich mit einer Athletin aus Monaco in einer Gondel. Ich war neidisch auf sie, weil sie so locker war. Aber es interessierte kaum jemanden, ob sie 20. oder 30. wurde. Bei mir ging es um den Sieg, und genau dort möchte ich ja hin.

STANDARD: Wird im Skisport ausreichend auf mentale Gesundheit geachtet? Oder herrscht Nachholbedarf?

Weirather: Es wird erst ein Thema, wenn ein konkretes Problem besteht. Früher hieß es ja nur, der spinnt, wenn es ihm mental schlecht ging. Jetzt setzen sich Verbände erstmals damit auseinander. Für jeden bedeutet mentale Gesundheit etwas anderes. Niemand weiß, wer zuständig ist: Die FIS, Trainer, Serviceleute, die Athleten selbst?

STANDARD: Wer hat Sie bei diesen Spielen überrascht?

Weirather: Sofia Goggia. Ihre Rückkehr hat für mich Hermann-Maier-Charakter. Ihr Sturz in Cortina war noch schlimmer als der von Hermann in Nagano. Sie hatte zwar mehr Zeit zur Vorbereitung, aber dass sie in der Abfahrt Silber holte, ist der Wahnsinn. Auch eine Märchengeschichte ist Johannes Strolz. Er flog aus dem Kader, jetzt ist er nicht nur Weltcup-, sondern auch und Olympiasieger.

STANDARD: Strolz holte Gold in der Kombination. Ist die Disziplin ein Auslaufmodell?

Weirather: Die Kombination ist in einer Negativspirale, aus der sie nicht mehr herauskommt. Man wollte mehr Athleten dazu motivieren, Allrounder zu werden. Aber weil das Niveau immer mehr steigt, muss man sich noch mehr auf seine Kerndisziplin spezialisieren. Der Schuss ging nach hinten los. Das Interesse ist gesunken. Skifirmen zahlen nur noch halb so hohe Siegprämien. Die Einschaltquoten sind mies, weil die Sendezeiten schlecht sind. Und es gibt zu wenige Siegkandidaten.

STANDARD: Wie gefallen Ihnen Parallelrennen?

Weirather: Die Idee war gut, den Sport in die Städte zu bringen. Doch mit dem Wechsel von Slalom zu Riesenslalom wurde es zur gefährlichsten Disziplin, obwohl wir ohnehin schon ein Verletzungsproblem haben. Es wird ständig verlangt, dass es Innovationen gibt. Und trotzdem funktioniert das Traditionelle am besten. Jeder Sport kämpft um so viele olympische Disziplinen wie möglich. Das hat ganz viel mit Geld zu tun. Ich verstehe nicht, warum sich der Skisport ständig selbst schlechtredet.

STANDARD: Was meinen Sie?

Weirather: Athleten, Trainer, TV-Experten attackieren den Skisport und damit sich selbst, das gibt es sonst in keiner anderen Sportart. Alles wird über Medien abgehandelt, anstatt intern zu reden. Wir finden die Kombi blöd. Und wir finden den Teamevent blöd. Aber altbacken sind wir auch. Ganz viele motzen, aber wenn ich sie nach ihrer Vision frage, kommt oft nur ganz wenig. (Lukas Zahrer, 18.2.2022)

Zur Person:

Tina Weirather (32) aus Vaduz gewann neun Weltcuprennen, wobei der Super-G ihre stärkste Disziplin war. In dieser entschied sie 2016/17 und 2017/18 jeweils die Disziplinenwertung für sich. Bei der WM 2017 holte sie Silber, bei den Winterspielen 2018 Bronze. In der Abfahrt und im Riesenslalom gewann sie je ein Weltcuprennen. Im März 2020 trat sie zurück. Sie ist die Tochter der Olympiasiegerin Hanni Wenzel und Abfahrtsweltmeister Harti Weirather.

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