Zwei Tage vor Weihnachten geschah eine Nichtigkeit, die den Lauf der jüngsten innenpolitischen Zeitgeschichte geprägt hat. Rückblickend handelt es sich um eine Situation mit geringer Bedeutung. Doch manchen Beteiligten hat sie sich eingebrannt.

Karl Nehammer war zu dieser Zeit noch nicht einmal drei Wochen lang Kanzler. Er saß in einer Besprechung mit den Landeshauptleuten, in der es um die Maßnahmenverschärfungen rund um die Feiertage ging. Und, ganz konkret, um die Sperrstunde – ob sie vorverlegt werden soll, wie es Expertinnen und Experten empfohlen hatten.

Wunsch und Wirklichkeit

Nehammer wollte ein Stimmungsbild aus den Ländern einholen. Eigentlich keine schlechte Idee. Er ließ die Landeschefs abstimmen. Die meisten waren für die spätere Sperrstunde um 23 Uhr. Für die Runde war die Sache somit geklärt.

Kurz darauf setzte sich die Spitze des damals neuen Corona-Beratungsgremiums Gecko vor die versammelte Presse und verlas die beschlossenen Regeln. Die Sperrstunde, erklärte die oberste Gesundheitsbeamtin Katharina Reich, werde auf 22 Uhr vorverlegt. Auch zu Silvester. Das gelte ebenso für die Hotellerie. Die Landeshauptleute waren nicht mehr vor Ort. Doch es soll nicht lange gedauert haben, bis sich die Kunde verbreitet hatte: Ihr Wunsch war übergangen worden.

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Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) in der Hofburg.
Foto: Reuters / Leonhard Foeger

In Zukunft, soll in manchen Ländern geschimpft worden sein, müsse man die eigene Position wohl noch deutlicher deponieren – gemeint war offenbar: im Vorfeld von Gipfeln und über die Medien. Denn so geschah es fortan.

Die "sieben Volksparteien"

Inzwischen hat sich das System, das in einem kurzen Winterschlaf lag, wieder eingespielt. Die Landeshauptleute haben eine Meinung oder Idee, sie wird lautstark über Zeitungen oder das Fernsehen ventiliert; und im Kanzleramt gehört es zum guten Ton, darauf mit allergrößtem Bedacht Rücksicht zu nehmen. "Wie es uns mit der ÖVP geht?", formuliert es jemand aus einem grünen Regierungsbüro süffisant: "Kommt darauf an, welche der sieben Volksparteien gemeint ist." Also: Niederösterreich, Oberösterreich, die Steiermark, Tirol, Salzburg, Vorarlberg oder doch Karl Nehammer selbst?

Das ist einerseits relevant, weil sich gerade bei den neuesten Öffnungsschritten wieder gezeigt hat, wie die Regierung von den schwarzen Ländern öffentlich vor sich hergetrieben wird. Öffnungen, das bedeutet für jene Bundesländer, in denen kommendes Jahr Landtagswahlen anstehen: der rechten Flanke, die gegen alles protestiert, den Wind aus den Segeln nehmen.

Die neue Impfskeptikerpartei MFG wird spätestens seit der Wahl im kleinen niederösterreichischen Waidhofen an der Ybbs als Bedrohung betrachtet. Die Gruppe bekam dort auf Anhieb mehr als 17 Prozent der Stimmen, die ÖVP stürzte hingegen ab und verlor die absolute Mehrheit. Hinzu kommt in der Volkspartei: Man braucht händeringend gute Schlagzeilen. Die Affären, die Chats, die Kritik am Pandemiemanagement der Regierung von allen Seiten – die Partei befindet sich in einer Negativspirale, die es nun aufzuhalten gilt.

Wiedererstarkung der Landeshauptleute

In Corona-Fragen werden die schwarzen Länder auch in den kommenden Tagen und Wochen mitreden, davon ist auszugehen. Die ÖVP-Landeshauptleute drängen auf ein Ende der Gratistests und fordern schnelle Antworten, wie es mit der Impfpflicht weitergeht. Die Wiedererstarkung der Landeskaiser und der einen mächtigen Kaiserin der Volkspartei hat aber noch eine weitere Komponente: Einige Landeschefs schätzen es sehr, dass durch Nehammer nun die von Sebastian Kurz gekappten Bande zur Sozialdemokratie neu geknüpft werden können – man muss schließlich auch an die Zukunft denken.

Denn, und da ist man sich in beiden Teilen der schwarz-grünen Koalition ziemlich sicher: Die aktuelle Regierung ist im Grunde abgewählt. Natürlich nicht wirklich und jetzt. Aber kaum jemand glaubt noch daran, dass ÖVP und Grüne nach der kommenden Wahl – wann auch immer sie stattfindet – noch einmal eine gemeinsame Mehrheit hätten. Die aktuellen Umfragen zeigen das klar. In der jüngsten Erhebung der Sonntagsfrage für das Magazin "Profil" steht die Volkspartei bei 24 Prozent, die Grünen liegen bei 13 – wer nicht rechnen möchte: Gemeinsam ergibt das schlappe 37 Prozent.

Bloß Umfragen

Natürlich, Umfragen sind bloß Umfragen, ein Wahlkampf kann die Ausgangslage ändern. Dennoch: Die Koalitionäre wissen längst, dass sie sich durch den Abgang des Stimmenfängers Kurz in einem Projekt auf Zeit befinden – völlig unabhängig davon, ob Neuwahlen drohen. Was macht das mit der Regierung?

Es führt jedenfalls dazu, dass Strateginnen und Strategen in der ÖVP wie auch bei den Grünen die Fühler ausstrecken und Gedankenexperimente anstellen. Die Grünen geben sich möglichst gelassen. Neuwahlen wünscht sich niemand, als mögliches Szenario hat die Partei einen vorgezogenen Urnengang aber natürlich auf dem Radar. "Ein Beinbruch wäre auch das nicht", ist ein Satz, den man derzeit oft hört. Auch wenn ein Regieren bis zum Ende der Legislaturperiode zweifelsfrei die bevorzugte Variante der Grünen ist.

Drohende Auslieferung

Ein Grund für ein Zerbrechen der Koalition zeichnet sich derzeit auch nicht ab. Die am Mittwoch verkündeten Öffnungsschritte tragen die Grünen vollinhaltlich mit. Die Kommunikation sei nicht ideal gelaufen, wird auch in grünen Regierungskreisen eingestanden – die vielen Wortmeldungen aus den Bundesländern seien einer sachlichen Debatte nicht zuträglich. Aber inhaltlich würden die Prognosen auch die radikale Öffnung ab 5. März erlauben, ist die grüne Spitze überzeugt – zumindest solange sich die Situation nicht unerwartet verändere.

Ein koalitionsinterner Konflikt könnte sich hingegen bald rund um die Auslieferung von ÖVP-Klubchef August Wöginger entspinnen. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft hat den Nationalrat um die Aufhebung von dessen parlamentarischer Immunität ersucht. Es geht um den Verdacht der Anstiftung zum Amtsmissbrauch im Zuge einer Postenbesetzung in einem Finanzamt. Offiziell wollen sich die Grünen noch nicht festlegen, ob sie Wöginger ausliefern würden. Hinter den Kulissen wird jedenfalls dazu tendiert. Dass die ÖVP deshalb die Koalition platzen lassen würde, wird bei den Grünen als unwahrscheinlich erachtet.

Manche Grüne stellen dennoch Überlegungen an, wie nach der nächsten Wahl eine "Ampelkoalition" wie in Deutschland möglich werden könnte – also eine Zusammenarbeit zwischen SPÖ, Grünen und Neos. Die bevorzugte Koalition wäre es für viele. In der ÖVP wird hingegen befürchtet, dass die Auswahl in Zukunft begrenzt sein könnte. Eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Chef Herbert Kickl halten viele für undenkbar – womöglich bleibe dann ohnehin nur die Wiederbelebung der großen Koalition. Oder Schwarz-Grün-Pink?

Einig ist man sich in allen Parteien: In der österreichischen Innenpolitik ist eigentlich nichts unmöglich. Oder wie es jemand aus der Regierung formuliert: "Man kann derzeit unmöglich ums Eck schauen." (Katharina Mittelstaedt, 19.2.2022)