Nur Aktivismus, der Machthabende zum Handeln zwingt, wird etwas verändern, sagt die Kultur- und Sozialanthropologin Ingrid Thurner im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Presseratsgeschäftsführer Alexander Warzilek: Was darf Satire? Verrutschter Fokus.

Illustration: Fatih Aydogdu

Ein bis vor kurzem wenig geläufiger Begriff ist vermehrt in den deutschsprachigen Medien aufzuschnappen: die Tugendbesoffenheit. Genaugenommen ist sie bloß alter Wein in neuem Schlauch, eine originelle Bezeichnung halt für ein banales Phänomen, das überbordende Moralisieren.

In den Zeiten vor Internet war das scheinheilige Ausrichten von Abwesenden auf Bassena und Stammtisch beschränkt und erreichte nur einen kleinen Kreis. Heute genügt ein winziger Verstoß, schon findet sich jemand, der seine Empörung in die Welt hinaustrompetet. Es ist noch nicht so lange her, da galt Freiheit der Rede, Freiheit des Tuns innerhalb der geltenden Gesetze. Wer sich daran hielt, konnte relativ sicher sein, nicht öffentlich angepöbelt zu werden; es herrschte eine Art Vertrauensgrundsatz – und manche Provokation war ja auch beabsichtigt.

Die Tugendbesoffenheit ist ein Rausch ohne Kater. Denn die Tugendbesoffenen (früher: Moralapostel) wähnen sich im Besitz einer absoluten und allgültigen Wahrheit. Auf diese kann man sich immer berufen und fühlt sich daher berechtigt, das moralinhaltige Gift durch die zur Verfügung stehenden Kanäle zu spülen.

Die Ursachen?

Über die Ursachen kann man trefflich spekulieren, ein Teil mag Corona geschuldet sein, der Isolation aufgrund von Lockdown, Quarantäne oder Homeoffice: enger Wohnraum, quengelnde Kinder, zu wenig Auslauf, zu wenig Bewegung, zu wenig frische Luft, zu wenig Abwechslung, dafür Langeweile, Erlebnisarmut, Aggression und Frustration; dazu mögen sich Neid gesellen oder Missgunst. Angehäufte negative Gefühle brechen sich irgendwo Bahn, das weiß man seit Freud.

Es sind gewisse Aufregerthemen, die selbsternannte Moralwächter besonders beflügeln: Klima, Corona, alles mit Gender (Sexismus, #MeToo, LGBTQIA+), Rassismus, Antisemitismus, Tierschutz, Homöopathie. Wehe Personen, die in der Öffentlichkeit stehen! Sie können sich nicht den kleinsten Regelverstoß erlauben. Sei der Lapsus noch so unabsichtlich passiert – ohne Shitstorm kommt niemand davon.

Neue Radikalität

Mit Covid wurde deutlich noch an Radikalität gewonnen. Man staunt, welche seiner Freunde oder Kolleginnen sich plötzlich als Blockwarte entpuppen. Wehe dem, der die Maske nicht vorschriftsmäßig vorgebunden hat, schon findet sich irgendwo ein Posting mit Hunderten von Kommentaren. Die Selbstgerechtigkeit selbsternannter Tugendwächter – von keinem Selbstzweifel geplagt – ist manchmal schon bewundernswert. Man muss sich nur irgendeiner Gruppe zugehörig fühlen, egal ob Impfverweigerer oder Impfzwangbefürworter – in all ihren politischen Schattierungen –, schon ist der mit allen rhetorischen Mitteln zu bekämpfende Feind ausgemacht.

Es funktioniert auch mit anderen Themen ganz gut. Ein grüner Politiker, der einen Burger isst, ein Sportler, der eine Vorschrift missachtet, eine Schauspielerin, die ein Privileg in Anspruch nimmt, eine Sozialistin, die sich zu gut kleidet – lauter vermeintliche oder tatsächliche Widersprüche, aber jedenfalls verdienen sie einen ordentlichen Rüffel. Was kürzlich noch eine lässliche Sünde war, eine liebenswerte menschliche Schwäche, ein Kavaliersdelikt, wird – medial aufgebauscht – zum Kapitalverbrechen.

"Unterprivilegierte brauchen nicht Mitgefühl und schöne Worte, sondern Bildung, Arbeitsplätze und ordentliche Entlohnung."

Der US-amerikanische Linguist John McWorther hat sich des Phänomens in Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet (Hoffmann und Campe, 2021) angenommen. Die ganze Political Correctness oder Wokeness oder wie der moralische Imperativ modisch gerade heißen mag, verdeckt seit jeher den zugrunde liegenden Missstand.

Schöne Worte reichen nicht

Unterprivilegierte brauchen nicht Mitgefühl und schöne Worte, sondern Bildung, Arbeitsplätze und ordentliche Entlohnung. Viren bekämpft man nicht mit Denunziation, allenfalls mit Solidarität. Für das Klima ist es unerheblich, ob ein Promi ein Plastiksackerl vor Zeugen wegwirft, zur Rettung des Planeten werden Einzelaktionen nicht führen.

Konzertierter politischer Aktivismus, der Machthabende zum Handeln zwingt – egal, welches gesellschaftliche Problem gerade ansteht – wird Ergebnisse erzielen, aber nicht die moralische Gülle, die scheinheilig über individuelle Sünder ergossen wird. (Ingrid Thurner, 20.2.2022)