Warum offenbart die Hölle keinen Weg nach draußen? Inès (Dörte Lyssewski) klagt an, Tobias Moretti und Regina Fritsch lauschen.

Foto: Matthias Horn

Auf die berühmte Frage des Apostels Paulus – "Tod, wo ist dein Stachel?" – wusste Jean-Paul Sartre 2000 Jahre später eine untröstliche Antwort: "im Fortleben der Anderen". In Sartres Höllenallegorie Geschlossene Gesellschaft (1944) haben die frisch Verstorbenen ihre Alltagsmühen nicht hinter sich gelassen. Sie sind weiter quietschlebendig, sogar beredter denn je. Als Tote wälzen sie unausgesetzt die moralphilosophischen Gedanken ihres Schöpfers Sartre. Sie beklagen Fehler und Versäumnisse und erleiden, auf Sartres Freiheits-Begriff festgelegt, noch in der Rückschau unausgesetzt moralischen Schiffbruch.

Vor allem aber sehen sich die trostlosen Drei in Geschlossene Gesellschaft vor die Aufgabe gestellt, ihre Leben-nach-dem-Tod in den Augen der anderen zu rechtfertigen. Und weil kein Fluchtweg offen ist, hat man im Wiener Burgtheater die Falle jetzt auch baulich zuschnappen lassen. Eine Zyklopenmauer aus grauen Hohlsteinen schließt die Bühne in Falllinie des "Eisernen Vorhangs" ab (Bühne: Martin Zehetgruber). Das leere Blechgeschirr eines Büffets höhnt den Daseinshunger der Verdammten.

Weil Geschlossene Gesellschaft die bekannteste Lesebuch-Illustration von Sartres Freiheitsdilemma darstellt (Der Blick des anderen hemmt uns und legt uns fest!), hat Martin Kušej, der inszenierende Hausherr, ein Gewissens-Gulag errichtet: eine Station zur Erforschung unseres pandemisch geknickten "Ichs". Auf knirschendem Kies müssen sich die Toten jetzt selbst beknirschen. Die ganze Unternehmung verströmt den Charme einer Ausgrabungsaktion.

Als erster wird der Zeitungsschreiber Garcin (Tobias Moretti) in die gleißend helle Debattierstube geführt: Wir alle – egal, ob vital oder von pandemischer Blässe angekränkelt – sind schließlich mitgemeint. Ein befrackter Kellner (Christoph Luser) geht den Dahingeschiedenen mit süffisanter Routine zur Hand. Weil jedoch die Türen des Verlieses versperrt sind, dürfen die Toten bei Anwandlungen von Überdruss einen Klingelknopf betätigen. Ihr Pech: Die Klingel schlägt kaum an.

Ministerieller Verdruss

Moretti ("Garcin") blickt sauertöpfisch drein: mit der verdrießlichen Miene eines Konzipienten, den man zum Schreddern von Akten in den Ministeriumskeller versetzt hat. "Da sind wir also?", lautet seine unbehagliche Feststellung. Um sein Los, und das von "Inès" (Dörte Lyssewski) und "Estelle" (Regina Fritsch), zu verbessern, hat man eine Skulptur von Erwin Wurm in den Orkus gepflanzt: ein überdimensioniertes, weiß lackiertes "Gurkerl". Die Idee, die Ewigkeit in Gesellschaft eines Kunstobjekts verbringen zu dürfen, das unausgesetzt im Wert steigt, steigert den Sadismus der Anordnung ins Unermessliche.

Rasch einigen sich die Damen und der Herr auf ein Grundlagenwissen. Er, Garcin, ist nicht ihrer aller Folterknecht! Alle drei können so lange ins Diesseits zurückblicken, so lange jemand ihrer gedenkt. Rasch setzt sich eine Zirkelbewegung in Gang: ein Verfolgungsrennen von Karussellpferdchen, die einander hetzen und doch nicht einzuholen vermöchten. Mit Moretti als stillem Brüter, der – ein hingerichteter Feigling der Résistance – die widerspenstige Inès als Richterin fürchtet. Und der koketten Kindsmörderin Estelle beizuwohnen wünscht, um seinen Freiheitsbegriff wenigstens hormonell zu erproben.

Meuchelübungen

Man erfreut sich selbstverständlich der vielen Geschicklichkeitsproben im Existenzkampf jede(s) gegen jede(n): post mortem. Man erhält aber auch einen eigentümlich bitteren Vorgeschmack auf die Plagen, die Plackerei in der Ewigkeit. Praktisch zu jeder Gelegenheit eignet dem Abend das säuerliche Phlegma der Pflichtübung. Man lauscht den Wut- und Hassarien der Drei, blickt auf die grell überschminkten Münder der Damen – und empfindet sich doch merkwürdig allein gelassen in dieser (schlechten) Ewigkeit.

So fruchten auch diverse Meuchelübungen der drei, vorgenommen an Hals und Herz, letztlich wenig. Lyssewski entfaltet noch einmal die ganze Pracht einer rasenden Zimmer-Mänade. Am Schluss sind unsere Heldinnen zu Salzsäulen erstarrt, erst zögerlich einsetzender Applaus reißt sie aus ihrer existenzialistischen Verspannung. Ein ermüdender Hinweis auf das mittlere 20 Jahrhundert: Mehr ist dieser freundlich beklatschte Abend nicht gewesen. (Ronald Pohl, 20.2.2022)