Vor kurzem begegnete ich an meinem neuen Arbeitsort, der Universität St. Gallen, einem interessanten Menschen. Er beforscht Eliten. Ich reagierte zuerst etwas perplex auf die Geschichte seines Elite Quality Index, in dem er versucht, die Qualität unterschiedlicher nationaler Eliten zu vergleichen.

Wie kann die Wissenschaft quantifizieren, ob eine Elite bleibende Werte schafft oder nur auf kurzfristige Eigeninteressen aus ist? Und welche Erkenntnisse können wir aus einer solchen Forschung ableiten? Umso mehr ich darüber nachdenke, desto spannender finde ich seine Arbeit.

Auch wenn St. Gallen nah an der österreichischen Grenze liegt, komme ich mir recht weit weg von zu Hause vor. Ein funktionierendes Staatsgefüge zu erleben ist wie ein geistiger Kururlaub. Das Schweizer Pandemiemanagement ist hervorragend, der politische Diskurs meist sachlich und die Verwaltung gut organisiert. Der oberste Beamte heißt Bundeskanzler, und bei seinen Personalentscheidungen geht es vorrangig um Eignung, nicht Parteizugehörigkeit. Vermutlich wird sich mein Eindruck mit der Zeit relativieren.

Von der Schweiz aus betrachtet erscheint mir das Versagen österreichischer Eliten noch fataler.
Foto: APA/Hans Punz

Dennoch, das Versagen österreichischer Eliten erscheint mir von hier aus noch fataler. Korruption, blindes Streben nach Macht, die Aushöhlung des Staatsapparats – die Verantwortung dafür liegt nicht nur bei der Politik: Zahlreiche Unternehmer, Medienvertreter und Lobbyisten (es geht hauptsächlich um Männer) haben aktiv dazu beigetragen, dieses System aufrechtzuerhalten.

System ausgenutzt

Unter diesen Leuten herrscht ein antiaufklärerischer Geist. Der eigene Status und die Macht des Netzwerks werden überbewertet. Intrigen und das Schaffen von Abhängigkeitsverhältnissen stehen im Vordergrund. Unerlaubte Abkürzungen zu nehmen gehört zur Tagesordnung. Das Erzählte ist wichtiger als das Erreichte.

Diese Menschen haben die Schwachstellen des Systems für sich genutzt und unser Land in eine gefährliche Schieflage gebracht. Der fehlende moralische Kompass von zahlreichen Entscheidungsträgern in allen Gesellschaftsbereichen macht mir mehr Sorgen als Demonstrationen der Impfgegner auf der Straße.

Die ÖVP und ihr Umfeld trägt eine erhebliche Mitverantwortung für diese Lage. Das Land erwartet von dieser Partei nicht nur eine echte Entschuldigung. Sie muss endlich reinen Tisch machen und zugeben: Wir haben versagt.

Gerade tut die Partei das Gegenteil und bereitet für die kommenden Monate eine wohlorchestrierte Ablenkungskampagne vor. Litigation-PR nennt man das im Neusprech der Berater. Darauf sollten wir nicht hereinfallen.

Wir müssen der Justiz weiter mit der Kraft unserer Empörung zur Seite stehen. Eine unabhängige Staatsanwaltschaft, die endlich ihrem Auftrag nachkommen kann, ist erst der Anfang. Der Druck der Öffentlichkeit ist zentral. Nur so wird es auch zu einer konsequenten Strafverfolgung der bekannt gewordenen Korruptionsvergehen kommen!

Mit dem Professor in St. Gallen habe ich in zwei Wochen einen Kaffeetermin ausgemacht. Ich bin schon neugierig, was er mir auf meine Frage sagt, wie wir Österreicherinnen und Österreicher unser Ranking im Elite Quality Index verbessern können. (Philippe Narval, 21.2.2022)