Die Küsterin (Nina Stemme, li.) imaginiert eine gruselige Hochzeitsszene, bei der Luca (Pavel Cernoch) bereit war, die junge Jenůfa (Svetlana Aksenova) zu ehelichen.

Foto: Kmetitsch

Es erscheint ein wenig lästig, während dieser Jenůfa im Theater an der Wien ständig an jenen Parsifal denken zu müssen, den Kirill Serebrennikov an der Wiener Staatsoper inszeniert hat. Da sich Regisseurin Lotte de Beer allerdings "in den Kopf" der schuldbeladenen Küsterin begeben hat, so wie der russische Regisseur in jenen des alten, sich erinnernden Parsifal, drängt sich der Vergleich nicht zufällig auf. Auch ist er erhellend.

Während die Erinnerungen Parsifals auch auf drei Filmleinwänden eine atmosphärisch starke Kontrastebene zu den "realen" Vorgängen bildeten, findet die ganze Geschichte, welche die Küsterin imaginiert, in einem Mauer- und Treppengebilde statt. Mitten in diesem lebt aber auch die "reale" Küsterin auf ihrem kargen Gefängnisbettchen (Bühne: Christof Hetzer).

Große Ähnlichkeit

Also: Zwischen der sich erinnernden und der von ihr selbst quasi erinnerten Küsterin ist leider kein markanter, schon gar kein ästhetischer Kontrast zu erleben. Diese zu große Ähnlichkeit der unterschiedlichen Sphären markiert denn auch das Grundproblem dieser Arbeit, die somit einen konventionellen Anstrich bekommt.

Grundsätzlich ist Lotte de Beers Ansatz natürlich reizvoll und nachvollziehbar: In Leoš Janáceks Oper wird die Küsterin am Ende verhaftet, sie gesteht den Mord an Jenůfas Kind. Die Mörderin regiemäßig ins Gefängnis zu sperren und sie die Ereignisse reflektieren zu lassen, die zu der Tat führten, erscheint plausibel.

Alles geht schief

Es gibt für die Küsterin ja Qualvolles aufzuarbeiten. Gefangen im Korsett der öffentlichen Moral eines kleinen Dorfes, ging für sie alles schief, was schiefgehen kann: Stieftochter Jenůfa lässt sich auf einen Säufer ein, der sie in den Zustand guter Hoffnung versetzt. Zum Kind will er sich allerdings nicht bekennen, was bedeutet, Jenůfa auch nicht heiraten zu wollen.

Den Hafen der Ehe steuert Hallodri Števa (trifft den Tonfall des Charakters gut: Pavol Breslik) lieber mit der heuchlerisch-überglücklichen Karolka an (Valentina Petraeva), der Tochter des Dorfrichters (Alexander Teliga). Damit ist Jenůfa jener Schande ausgeliefert, die in dieser kleinen, gemeinen Welt die Existenz eines unehelichen Kindes bedeutet.

Was die Küsterin hinter Gittern imaginiert, kehrt hier in kitschig-folkloristischen, aber auch gruselig gemeinten Bildern zurück. Im Vergleich zu Serebrennikovs Parsifal bleiben sie allerdings eben eher behäbig in ihrer Ausstrahlung. Da ist zwar jene dynamische Szene, in der sich Männer mit Wolfsmasken plötzlich auf Jenůfa stürzen.

Diese situative Dramatik bleibt jedoch Einzelfall. In einer Art oratorialer Prozession überqueren an anderer Stelle folkloristisch und sakral Maskierte mit einer Schwangeren die Bühne, um später zur Masse anzuwachsen: In dieser Vision der Küsterin bilden sie eine albtraumhafte Hochzeitsgesellschaft. Die Menschenmenge hätte bezeugt, dass ein anderer Mann, Luka (packend und mit Edelklang: Pavel Cernoch), bereit war, Jenůfa zu ehelichen, was die öffentliche Ehre der Familie gerettet hätte. Wäre in diesem Augenblick nicht das tote Kind gefunden worden ...

Starke Figuren

Immerhin wird die Intensität des Dramas anhand einzelner Figuren deutlich: Nina Stemme, die erfahrene Wagner-Sopranistin, wächst bei ihrem Rollendebüt als Küsterin von Szene zu Szene heran zu einer Verzweifelten, die in hochdramatischer Schuldekstase dieser Figur Unmittelbarkeit verleiht.

In ihrer differenzierten Fragilität ein glaubwürdiger Kontrast das Mädchen Jenůfa: Svetlana Aksenova zeigt eine unbeschwert-verliebte Frau, die von den Ereignissen gedemütigt und zermalmt wird, schließlich jedoch zur großen Vergebung ansetzt. Vokal war das tadellos, wenngleich es jene im Dramatischen durchaus sinnvollen Schärfen auch im Lyrischen zu hören gab.

Über all diesem grau-eindimensionalen Ambiente erhebt sich der Orchesterpart. Das RSO-Wien unter Marc Albrecht (der unlängst auch für Ingo Metzmacher bei Tosca eingesprungen war) lässt die Musik edel leuchten. Alles wirkt dabei transparent: jene das Folkloristische modern verdunkelnden Momente wie auch die ständigen Richtungswechsel des Ausdrucks, der die Seelenregungen der Figuren abbildet.

Das Schwelgerische der Musik und das Dramatische – es wurde im Gleichgewicht gehalten und brachte doch jene Kontraste hervor, auf welche die solide Inszenierung leider verzichtet und damit ihr Potenzial nicht ausgeschöpft hat. (Ljubiša Tošic, 21.2.2022)