Die Hipster mit ihren Leinentaschen und Lastenrädern sind am Meidlinger Markt angekommen. Der "Fladen Laden" bewirbt bereits zielgruppengerecht vegetarische und vegane Fladen. Am Markt gibt es Bio-Fleisch und -Seifen, Vinylplatten sowie Mode für Möpse. Und mit der "Wirtschaft am Markt" hat das erste Haubenlokal überhaupt auf einem Wiener Markt eröffnet.

Besonders am Freitag und Samstag kommen viele zum Einkaufen auf den Markt.
Foto: Heribert Corn

Vor zehn Jahren grassierte hier noch der Leerstand. Heute spielt der Meidlinger Markt in den Rankings der besten Märkte Wiens mit. Das strahlt auf die Umgebung aus. In den vergangenen Jahren wurden im ganzen Grätzel alte Häuser abgerissen und durch glatte Neubauten mit Balkonen ersetzt – oder alte Häuser saniert und ihre Dachgeschoße aus gebaut. Die Immobilienbranche weiß, worauf es der Zielgruppe ankommt: Wohnprojekte werben auch dann mit der Nähe zum Markt, wenn man diesen nicht einmal mehr von der Penthouse-Wohnung unterm Dach erspähen kann. Die Quadratmeterpreise für den Wohnraum liegen meist jenseits der 6000 Euro.

Die Dynamik, die aus einem Durchschnittsviertel einen Hotspot macht, kennt man aus New York oder Berlin. Das Phänomen wird Gentrifizierung genannt: Erst kommen Kunstschaffende und Hipster, dann die Immobilienwirtschaft. Wohnungspreise und Mieten steigen. Einkommensschwächere können sich das Wohnen hier nicht mehr leisten – und werden von den wohlhabenden Neuankömmlingen mit ihren Soja-Lattes und Bugaboo-Kinderwagen verdrängt. So weit das Klischee. Aber gibt es Gentrifizierung auch in Wien, und kann man ihr in Meidling gerade bei ihrer Entfaltung zuschauen?

Platz für Alteingesessene

Manches deutet darauf hin. In vielen Aspekten unterscheidet sich Meidling allerdings auch vom Berliner Prenzlauer Berg. Der offensichtlichste Unterschied: Die Alteingesessenen, die sich weder aus veganem Schweinsbraten noch aus Öfferl-Brot etwas machen, sind immer noch da – und für sie gibt es immer noch viel Angebot. Es sind zum Beispiel ältere Damen mit Wägelchen, in die sie das Gemüse vom Händler schlichten. Oder alte Männer, die vormittags schon an Stehtischen vor den verbliebenen urigen Lokalen stehen.

Es gibt auch für jene, die sich nichts aus veganem Schweinsbraten machen, ein Angebot.
Foto: Heribert Corn

Sie trinken Spritzer und zeigen sich von der Boboisierung ihres Marktes und den winterlichen Temperaturen gleichermaßen unbeeindruckt. Eigentlich sei eh alles schlecht wie immer, so lassen sich viele der Gespräche zusammenfassen. Wobei, vielleicht sei es in den letzten Jahren noch einmal schlechter geworden: Man kenne die Leute am Markt nicht mehr, niemand würde mehr grüßen, und das Bier könne man sich auch nicht mehr leisten, fügt einer hinzu. Seit 50 Jahren wohnt ein Mann mit strengem Bürstenhaarschnitt schon in der Nähe. Hat sich die Nachbarschaft in den letzten Jahren verändert? – "Ja, sehr!" – Wegen der Gentrifizierung? – "Wegen der was? Aber nein! Die Nachbarn sind alle gestorben."

Die Stadtforscherin Cornelia Dlabaja beschäftigt sich mit den Wiener Märkten auch wissenschaftlich. In Meidling bemerkt sie, wie auf anderen Märkten, eine zunehmende Gastronomisierung. Es gibt immer mehr Lokale, während die Stände, an denen Dinge des täglichen Bedarfs gekauft werden können, weniger werden. Manche Lokale sind immer noch urig, aber es gibt mittlerweile mit dem "Heu & Gabel", dem "Hüftgold" oder dem "Ignaz & Rosalia" auch ein Angebot für ein ganz anderes Publikum.

Cornelia Dlabaja beobachtet eine Gastronomisierung auf dem Markt.
Foto: Heribert Corn

Der erste Bobo

Den ersten Schritt in Richtung Boboisierung können die Marktstandlerinnen und Marktstandler alle genau datieren: Vor zehn Jahren kaufte Christian Chvosta einen heruntergekommenen Kebabstand und eröffnete mit dem "Milchbart" das erste hippe Lokal der Gegend. Damit fand er ein Publikum, das zuvor einen Bogen um den Markt gemacht hatte. Chvosta stellte seine Gäste einander vor, sie vernetzten sich und entwickelten Ideen. Der Verein Wir sind 12, der mit zahlreichen Projekten mithalf, den Markt zu beleben, wurde im Dunstkreis des "Milchbart" geboren. In diese Fußstapfen tritt heute auch die Architektin und Anrainerin Sigrid Mayer, die mit ihrer Initiative Mei Meidling das Grätzel klimafit machen will.

"Wenn du damals eine Idee hattest, hat immer einer einen gekannt", erinnert sich Chvosta. Es wurden Silent Discos veranstaltet und auf einem rosa Klavier geklimpert. Einige Stammgäste haben sich über eigene Marktstände getraut. Verdrängung habe es nicht gegeben, sagt Chvosta, der vor drei Jahren zugesperrt hat: "Wir haben Leben reingebracht und den Alteingesessenen was zum Schauen gegeben." Zudem sei man inklusiv gewesen und habe Waren vom Markt bezogen. "Wir waren die ersten am Markt, die nicht gesagt haben: 'Kommt zu mir.' Sondern: 'Kommt zu uns.'"

Das Heu & Gabel von Kathi Schinner-Krendl gibt es seit eineinhalb Jahren.
Foto: Heribert Corn

Dass es mit dem "Milchbart" eine Veränderung zum Positiven gab, bestätigt auch der Gewürzhändler Aret Kücüksivazliyan. Nur so wie am Naschmarkt solle es bitte nicht werden. Überhaupt wird der Klassiker unter den Märkten gern als Negativbeispiel genannt. Zu touristisch sei es dort – und zu wenig authentisch.

Drei Millionen für ein Haus

Stadtforscherin Dlabaja kennt die Entwicklung des Meidlinger Marktes schon vom Brunnenmarkt in Ottakring und dem Karmelitermarkt in der Leopoldstadt. Sie beobachtet im zwölften Bezirk durchaus Tendenzen für eine langsame Gentrifizierung. Ein Indikator sind für sie die ausgebauten Dachgeschoße. Der Grund für die Beliebtheit der Wiener Märkte als Wohnumfeld: "Die Menschen leben gern auf Plätzen", sagt Dlabaja.

Das bekommen Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer in erster, zweiter und dritter Reihe rund um den Markt zu spüren. Mehrere berichten davon, wöchentlich von Kaufwilligen kontaktiert zu werden. Wer auf die blumigen Briefe nicht reagiert, wird angerufen und mit Preisen geködert, die früher in Untermeidling undenkbar gewesen wären. "Bei drei Millionen überlege ich es mir", sagt die Besitzerin eines schmucken alten Hauses in Sichtweite des Marktes dem STANDARD. Diese Schwelle könnte bald erreicht sein.

Urige Lokale gibt es weiterhin am Markt.
Foto: Heribert Corn

Der Bauboom zeigt sich nicht nur an den Baugerüsten, er lässt sich durch Zahlen belegen: Im Umkreis von 500 Metern um den Markt werden laut Daten der Bauträgerdatenbank Exploreal heuer 172 Wohneinheiten fertiggestellt, 2021 waren es ähnlich viele. Und in dem Zählbezirk, in dem der Meidlinger Markt liegt, wurden 2021 fast 18 Wohnungen pro 1000 Einwohner fertig. Im Wien-Schnitt waren es nur halb so viele. Das wird auch vonseiten der Politik beobachtet. Bezirksvorsteher Wilfried Zankl (SPÖ) sieht in der Gegend gewisse Verdrängungstendenzen.

Keine Fantasiepreise

Allerdings betont Dlabaja: "In Wien ist die Dynamik der Gentrifizierung nicht vergleichbar mit Städten wie New York." Zu dem Schluss, dass das Phänomen in Wien überschätzt wird, kam auch die Österreichische Akademie der Wissenschaften jüngst in einer Studie. Das ist einerseits auf die in weiten Bereichen des Immobilienmarktes gedeckelten Mieten zurückzuführen.

Im Altbau – das ist alles, was bis 1945 errichtet wurde – beträgt die Basisnettomiete 5,81 Euro pro Quadratmeter. Dazu kommen Zu- und Abschläge. Fantasiepreise dürfen in der gründerzeitlichen Stadt nicht verlangt werden – theoretisch. Dass häufig dennoch zu viel verlangt wird, wissen Mieterschützerinnen und Mieterschützer aber genau.

Ein Geschäft hat sich auf das Zubehör für kleine Hunde spezialisiert.
Foto: Heribert Corn

Noch eine Bremse gibt es für die Gentrifizierung: In bestehende Mietverträge darf nicht eingegriffen werden. Der Vermieter oder die Vermieterin kann die Miete also nicht erhöhen, nur weil die Gegend zum Hipster-Traum wird. Und dann gibt es in Wien auch noch den sozialen Wohnbau in Form von Gemeinde- und Genossenschaftsbauten. Im Arbeiterbezirk Meidling stehen besonders viele solcher wuchtigen Gebäude, die vor der Preisspirale des heißgelaufenen Immobilienmarktes geschützt sind.

Schwächen des Systems

Der Stadt- und Wohnungsforscher Justin Kadi sieht in einem aktuellen Beitrag für einen Sammelband über Gentrifizierung aber auch Schwächen des Systems. So verhindere das Mietrecht beispielsweise nicht, dass Häuser parifiziert und Wohnungen als teure Eigentumswohnungen abverkauft werden. Altmieterinnen und -mietern wird in solchen Situationen manchmal Geld geboten, manchmal Druck gemacht. Solche Schikanen verzeichnet man bei der zuständigen Gebietsbetreuung Stadterneuerung "bis auf Einzelfälle" allerdings nicht: "Veränderung ist in Meidling rein baulich spürbar", heißt es auf Anfrage. Gezielte Verdrängung nimmt man nicht wahr.

Die neuen Lokale locken ein anderes Publikum an. Etwa die Wirtschaft am Markt von Bauträger Hans Jörg Ulreich und Haubenköchin Heidi Ratzinger.
Foto: Heribert Corn

Hans Jörg Ulreich hat das Grätzel in den letzten Jahren geprägt wie sonst niemand. Ihm gehört die erwähnte "Wirtschaft am Markt". Wirt ist Ulreich aber eigentlich nur nebenbei. Hauptberuflich ist er Bauträger und außerdem der Sprecher seiner Zunft in der Wirtschaftskammer. 180 Wohnungen hat er in der Gegend in den letzten zehn Jahren gebaut, hauptsächlich, indem er Gründerzeithäuser saniert und aufgestockt hat.

"Meidling war immer das Stiefkind der Vorstadtbezirke", sagt Ulreich. Dabei sei es der am besten angebundene dieser Bezirke. Ulreich verfolgt mit seinen Immobilienentwicklungen einen für die schnelllebige Branche ungewöhnlichen Ansatz. Er zieht nicht nur Wohnungen in die Höhe, sondern entwickelt sich auch die Nachbarschaft gleich mit – sicher aus Idealismus, aber wohl auch, um seine Wohnungen besser verkaufen zu können. An anderen Ecken der Stadt ging diese Rechnung nicht immer auf, an einem Lokal im 14. verbrannte sich Ulreich einmal die Finger. Mit der "Wirtschaft am Markt" klappt es jetzt.

Turmbau zu Meidling

Ulreichs Einfluss ist im Grätzel unübersehbar. In der Arndtstraße 88 steht in Blickweite des Marktes statt einem unauffälligen Gründerzeithaus ein strahlend weißer Bau mit Balkonen in Holzoptik und einem Turm, der sich über die umliegenden Häuser erhebt. Das Projekt nennt sich Skyfall – man will sich die Aussprache mit dem berühmten Meidlinger L kaum ausmalen.

Ulreich betont, dass er Altmieterinnen und Altmietern aus Gebäuden, die er sanieren will, Ausweichwohnungen anbietet. Oftmals würden diese dann aus Wohnungen, in denen es nicht einmal Duschen gibt, die nicht barrierefrei sind und in denen mit dem offenen Gasherd geheizt wird, in eine moderne Wohnung übersiedeln: "Ich glaube, da lässt sich jeder gern gentrifizieren", sagt er.

Das mag sein. Doch Gentrifizierung passiert auch viel leiser: Die, die vielleicht tatsächlich verdrängt werden, verschwinden oft sang- und klanglos aus dem Viertel. Oder sie kommen erst gar nicht mehr her, weil billige Wohnungen in Erdgeschoßzonen wegsaniert werden. Das macht Meidling nicht zu New York. Aber es verändert das Grätzel für immer. (Franziska Zoidl, 22.2.2022)