Emmanuel Macron (links) genießt in Moskau einen Ruf als einer, mit dem man reden kann.

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Sonntagsruhe ist für Emmanuel Macron ein relativer Begriff. Am vergangenen Sonntag telefonierte er um elf Uhr vormittags mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Kurz darauf rief der aktuelle EU-Ratsvorsitzende den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an. Um 17.30 Uhr rapportierte seinem Verbündeten Olaf Scholz in Berlin. Drei Stunden später rief er den britischen Premier Boris Johnson an, um 21.45 Uhr sodann US-Präsident Joe Biden. Um 23 Uhr endete der Tag mit einem weiteren Anruf in eine entgegengesetzte Zeitzone – zu "Wladimir", der sich mit "Emmanuel" neuerdings duzt.

Am Montag wurde der Sinn des Ablaufs ersichtlich: Macron schlug Putin einen Russland-USA-Gipfel vor, und der Russe sagte laut französischen Diplomaten zu, worauf Macron Biden die frohe Kunde übermittelte. Der Amerikaner zeigte sich "immer gesprächsbereit", sofern die andere Seite keine Kriegshandlungen vornimmt. Das teilte der Franzose noch am gleichen Abend dem Mann im Kreml mit.

Am Montag folgte in Paris die Ernüchterung, als der Kreml-Sprecher festhielt, ein Zweiergipfel sei im aktuellen Stand der Dinge "verfrüht". Macrons Berater ließen sich nicht entmutigen. "Wir werden auf unserer Gratwanderung weitermachen", verlautete aus dem Élysée. "Es geht schließlich darum, das Schlimmste zu verhindern."

In Paris sieht man auch, dass die russischen "Manövertruppen" ihren versprochenen Rückzug aus Belarus am Sonntag nicht angetreten haben. Aber Macron sagt sich: Solange wir im Gespräch sind, gibt es keine Invasion der Ukraine.

Sechs Meter langer Tisch

Der französische Präsident ist nicht naiv. Als guter Politdarsteller durchschaut er Putin vielleicht besser als viele andere. Aber er hört dem Russen auch wirklich zu, wenn dieser von einer "europäischen Sicherheitsarchitektur" spricht. Als er ihm vor zwei Wochen die Aufwartung machte, ließ er sich durch das vielsagende Setting eines sechs Meter langen Monstertischs nicht aus der Fassung bringen. Es war Putins Rache, weil sich Macron am Flughafen geweigert hatte, einen PCR-Test abzulegen – und den Russen damit seine DNA-Spur zu überlassen.

Zugleich nennen sich die beiden nun beim Vornamen. Bei aller Gefühlskälte scheint der – zumindest in Covid-Fragen – leicht paranoide Putin ein gewisses Vertrauen in den Franzosen zu setzen. "Mit ihm kann man in die Tiefe diskutieren", meinte sein Sprecher.

Modus Vivendi

Macron beherrscht das brutal simple und zugleich äußerst komplexe Dossier. Er trennt systematisch die Donbass- von der Nato-Frage. Als Putin den Ukrainern in dem fast zweistündigen Videocall vorwarf, sie verweigerten jede Verhandlung mit den Separatisten, stellte Macron klar, solche direkten Gespräche seien laut Minsker Abkommen untersagt. Aber es gebe, fügte Macron geschmeidig an, Mittel und Wege für eine indirekte Verhandlung über die trilaterale Kontaktgruppe.

Auch zum zweiten Aspekt, der unverletzbaren Souveränität der Ukraine und ihrer Bündnisfreiheit, gelang es Macron offenbar, "wirkliche diplomatische Perspektiven aufzuzeigen, die von den Russen akzeptiert" worden seien, wie es im Élysée hieß. Was darunter genau zu verstehen ist, blieb offen. Macron schlägt aber wohl einen Modus Vivendi vor, der für alle Seiten annehmbar ist: keine "Finnlandisierung" der Ukraine, aber auch keine baldige Nato-Mitgliedschaft.

Geschmeidiger Verhandler

Macron verhandelt aufrichtig, da er als Franzose der Nato selber kritisch gegenübersteht. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire erklärte am Montag erneut, die USA und die EU hätten in dieser Krise "nicht die gleichen Interessen". Zugleich kann Macron aber auch mit Biden, und das in perfektem Englisch. Das schmälert Zweifel an seiner Bündnistreue.

Selbst die Briten scheinen langsam einzusehen, dass Macron kein "Verräter" des Nordatlantikpakts ist, wie es in London noch im Jänner hieß, sondern eine Art Arbeitsteilung verfolgt: den Angelsachsen die harte Linie gegenüber Putin, den Franzosen die Vermittlerrolle. Und zwar nicht nur eine aufgesetzte, sondern eine wirklich "europäische" Rolle, die Verständnis für die "eurasische" Position Russlands aufbringt. Und anders als der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat der französische Kommunikator aus dem Élysée mit Putin eine Gesprächsebene gefunden. Auch das zeugt von einer unausgesprochenen Arbeitsteilung zwischen dem wortkargen Norddeutschen und dem gesprächigen Franzosen.

Die europäische Themenführerschaft liegt dabei klar bei Macron. Der Franzose mischt sich ein, er stellt sich ungefragt zwischen Washington und Moskau, und er lässt sich auch durch Rückschläge nicht davon abhalten. Immer mit der gleichen Logik: miteinander reden, solange noch Zeit ist. Und wenn sie noch in einem Jahr oder in zehn Jahren miteinander reden müssen, um den Krieg zu verhindern, soll es nicht an Macron liegen. (Stefan Brändle aus Paris, 22.2.2022)