Kann der französische Staatspräsident Emmanuel Macron auf seinen russischen Kollegen Wladimir Putin einwirken?

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Was in diesen Tagen in der Ukraine geschieht, hat ein Veränderungspotenzial, welches das Schicksal des Kontinents auf Jahre und Jahrzehnte hinaus verändern könnte – positiv oder negativ, je nachdem.

Wenn es ganz schlecht läuft, schlittert Europa in eine politische, wirtschaftliche und militärische Krise, wie es sie seit 1945 nicht gab. US-Präsident Joe Biden sprach nicht zufällig aus, was es bedeutete, wenn US-Soldaten in der Ukraine – in Europa – gegen Russen kämpfen würden: die Dimension eines Weltkriegs. Die USA wollen keinen Krieg. Sie sind gerade aus Afghanistan abgezogen.

Staatspräsident Emmanuel Macron, der sich in nur zwei Monaten der Wiederwahl stellt, wirft nicht umsonst mit hohem Risiko sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale, um Russlands Präsident Wladimir Putin zum Einlenken zu bewegen. Die Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa müssen dem Franzosen dankbar sein, dass er die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an sich gerissen hat. Nach dem Brexit und dem Abgang Angela Merkels, der ein blasser Olaf Scholz als Kanzler folgte, ist sonst niemand da, der die EU und ihre Prinzipien von Freiheit und Demokratie resolut vertreten könnte.

Stellvertreterkonfrontation

Genau darum geht es jetzt aber. Putin sucht in der Ukraine eine Stellvertreterkonfrontation mit dem Westen. Er rasselt nicht mit Panzern, weil die Nato (oder gar die EU) ihn bedrohen würde, wie "Putin-Versteher" glauben machen wollen. Dem Kreml ist das liberale Gesellschaftsmodell der EU ein Dorn im Auge. Weil Ukrainerinnen und Ukrainer so leben wollen, bedroht er sie. Er will das Rad der Geschichte zurückdrehen.

Es lohnt sich also nicht nur, ihn daran zu hindern. Das ist eine Existenzfrage für das gemeinsame Europa. Gut zureden allein hilft da nicht. Wie schon in den 1980er-Jahren ist es die wirtschaftliche Macht des Westens, die Moskau fürchten muss. Diese "Waffe" muss die EU nun offen herzeigen.

Wenn es gut ausgeht, Krieg durch eine politische Lösung verhindert wird, könnte es zu einer Fortsetzung der Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur kommen, die seit 1989 ein unvollkommenes Stückwerk blieb. Für Russland war die Tür immer offen. Damals fiel der Eiserne Vorhang, der Europa teilte, durch friedliche Revolutionen der Bürgerinnen und Bürger im sogenannten "Ostblock". 1991 kollabierte zuerst der Warschauer Pakt, wenig später die Sowjetunion. Es folgte eine friedliche Entwicklung. Ergebnis: Rund hundert Millionen Menschen aus Ost- und Ostmitteleuropa in zehn Staaten wurden Mitglied in der EU und der Nato.

Partner der Nato

Russland wurde mit einem eigens geschaffenen Nato-Russland-Rat ein Partner des Militärbündnisses. Die EU ist von zwölf auf 27 Staaten gewachsen, insgesamt 450 Millionen Einwohner. 21 dieser Länder mit 415 Millionen Einwohnern gehören dem transatlantischen Bündnis an. Die Nato ist in Wahrheit das europäische Verteidigungsbündnis. Das dem russischen Autokraten klarzumachen ist Gebot der Stunde.

Einen heißen Krieg in der Ukraine bekäme die ganze Schwarzmeerregion, die EU-Nachbarschaft, der Westbalkan zu spüren. Bei einer Eskalation käme es zuerst zu einer Flüchtlingswelle in Richtung Westen. In der Ukraine leben 41 Millionen Menschen. Hunderttausende, vielleicht Millionen würden vor russischen Besatzern fliehen. Europa droht also wieder eine humanitäre Katastrophe. (Thomas Mayer, 21.2.2022)