Regisseur András Dömötör hadert privat wie beruflich mit Viktor Orbáns Politik in Ungarn.
Foto: Dániel Dömölky

Der ungarische Regisseur András Dömötör gehört zu jenen Theaterexilanten, die im Zuge der Verdrängung freien Kunstschaffens aus Ungarn das Weite gesucht haben und nun vorwiegend im deutschen Sprachraum inszenieren. Erstmals kommt nun eine Arbeit am Burgtheater heraus: Im Kasino bringt er am Samstag Thomas Melles brisantes Kunstdiskursstück "Ode" zur Premiere.

STANDARD: Es gibt einen Kampf um den Begriff "ungarische Kultur". Was ist das aus Ihrer Sicht?

Dömötör: Die ungarische Kultur war in der Geschichte immer entweder in Richtung Westen oder in Richtung Osten orientiert. Viele Menschen in Ungarn sind wie ich überzeugt, dass Ungarn zum Westen gehört. Ungarn und Österreich haben sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1955 ganz ähnlich entwickelt. Budapest war wie Wien immer ein Zentrum Europas. Das ist sehr schön in Claudio Magris’ Buch "Donau" beschrieben. Aber heute wird "ungarische Kultur" in Ungarn nur noch von Rechtspopulisten bis hin zu Vertretern am ganz rechten Rand im Mund geführt. Für mich ist diese "echte ungarische Kultur" aber ein Fake. Ich weiß nicht, was sie damit meinen. Es ist eine Marke, die erfunden worden ist, wie Coca-Cola. Wir können die Farben der Nationalflagge zwar interpretieren, aber am Ende ist es reine Fantasie.

STANDARD: Was denkt die Bevölkerung, wenn es dazu keinen Inhalt gibt?

Dömötör: No content is the content of populism! Es ist Kitsch, es geht um Emotionen. Sie sagen derzeit: "Wir bewegen uns nach vorn, nicht zurück." Das klingt gut, heißt aber gar nichts. Es ist wie der Spruch "Make America great again". Es sind leere Worte, sehr gut designte Messages, die Emotionen ansprechen, aber nicht diskutierbar sind, weil sie keine Argumente kennen. Obendrein ist alles höchst widersprüchlich, wenn man an den in einen Sexskandal involvierten Fidesz-Spitzenpolitiker denkt.

STANDARD: Wie gehen Sie persönlich mit dieser Politik um?

Dömötör: Meine Strategie ist, mich nicht zu sehr in den politischen Frust zwingen zu lassen. Sich gegenseitig zu beruhigen, das ist meine Devise. Und irgendwann wieder zusammenarbeiten. Das System ist so mächtig angewachsen, dass das derzeit aber nicht möglich ist.

STANDARD: Die Rede von Ministerpräsident Orbán in Brüssel vor kurzem wurde von der ungarischen Opposition mit Häme bedacht. Hat sie eine Chance bei den Parlamentswahlen?

Dömötör: Orbáns Narrativ ist sehr klar: Ich beschütze euch, ich bin hier, ihr könnt mir vertrauen. Da ist dann die Korruption völlig egal, die ist in Ungarn nämlich noch viel ärger als der Fall Strache. Ungarns Korruption hat Shakespeare-Dimensionen. Alle wissen Bescheid, aber trotzdem sind die Politiker noch da, weil sie alles kontrollieren und weil die Menschen glauben, dass es besser wird. Der Regierungschef ist überall präsent. Die Manipulation kostet Unsummen. Viele sind manipuliert, viele haben ökonomische Interessen am System, viele schweigen auch aus Angst um ihre berufliche Sicherheit.

STANDARD: Wie steht es um die Umpolung der renommierten Theater- und Filmuniversität SZFE, deren Besetzung im vorletzten Herbst international für Aufsehen sorgte?

Dömötör: Die neu bestellte Uni wird derzeit mit Geld vollgepumpt. Ich habe dort ebenfalls von 2010 bis 2017 unterrichtet, das Gehalt wurde immer weniger, manchmal gab es kein Budget für Klopapier. Und jetzt gibt es ein neues Gebäude mit neuer Infrastruktur. Aber es läuft, glaube ich, nicht so richtig. Es gibt dort wenige gute Namen. Die meisten sind Systemtreue, die jetzt aus dem Schatten hervorgetreten sind. Sie zerstören alles. Sie zerstören die ungarische Kultur, wie ich sie sehe. Es ist ein historisches Verbrechen, was da passiert, das ist meine Meinung. Die alte SFZE wird erfreulicherweise frei unterstützt und kann momentan noch weiterbestehen. Sie sind übrigens in das Gebäude der vertriebenen Central European University eingezogen.

STANDARD: Viele ungarische Regisseure sind hierzulande bekannt, Béla Pinter, Róbert Alföldi, Árpád Schilling, Kornél Mundruczó, Viktor Bodó. Wo sind die Regisseurinnen?

Dömötör: Als ich Anfang der Nullerjahre studierte, war das Lehrerboard noch beschämend konservativ: alte Männer, die nicht an die Gleichberechtigung dachten. Und es ist seither eigentlich noch schlimmer geworden. Es gibt darüber in Ungarn nicht so ein Bewusstsein und auch nicht so viele Diskussionen wie in Deutschland und Österreich!

STANDARD: Ungarische Regisseure sprechen vielfach ungern über Ungarn. Warum?

Dömötör: Ganz einfach: Auch negative Propaganda ist Propaganda. Der ehemalige Berater von Putin sagte, Putins Ziel sei einzig, dass alle Welt immer über ihn rede. Das gibt ihm Macht. Wie Trump: Jedes Gespräch, jeder Text über ihn macht ihn noch mächtiger. Wenn Orbán wüsste, dass sich zwei Menschen im Burgtheater in Wien über ihn den Kopf zerbrechen, anstelle über Thomas Melles Stück zu reden, wäre er superhappy. Ist er so bedeutend?

STANDARD: Das Stück "Ode" fragt, was Kunst alles darf. Zum Beispiel: Darf sie den Nazis huldigen? Und es fragt, wer worüber Deutungshoheit hat. Gibt es für Sie eine Conclusio?

Dömötör: Es gibt keine Conclusio. Das Publikum muss die Antwort darauf, wie weit die Freiheit der Kunst gehen kann, selbst finden. Die einzige Conclusio ist, dass Kunst frei sein muss. Es ist so, wie es auf der Wiener Secession steht: "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit".

STANDARD: Sie inszenieren seit 2014 im deutschsprachigen Raum, aber erst jetzt in Wien. Warum?

Dömötör: Das hatte einzig terminliche Gründe, ich wurde bereits mehrfach eingeladen. Wien war immer eine Stadt, in der ich oft zu Besuch war und bin, um Ausstellungen und Theater zu besuchen.

STANDARD: Sie wurden sehr weit im Westen geboren, in Zalaegerszeg. Hat das eine besondere Nähe erzeugt?

Dömötör: Als ich ein Kind war, konnten wir ORF 1 und ORF 2 schauen. Immer wenn die Verwandten aus Budapest zu Besuch kamen, mussten wir gleich den Fernseher aufdrehen. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr an "Am dam des" und an "Wickie und die starken Männer". In unserer Familiengeschichte gibt es auch eine Verbindung nach Österreich und Deutschland. Diese nach Westen hin orientierten Familienlegenden wurden von meiner Großmutter gespeist, sie hieß Ida Weinhoffer. Sie hatte diese Nostalgie für die Monarchie. Später habe ich einen DNA-Test machen lassen, der bestätigte, dass meine genetischen Wurzeln zum Teil in Oberösterreich und im nordwestlichen Teil von Bayern liegen. (Margarete Affenzeller, 23.2.2022)