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Kein Entkommen: Der Versuch dieser Fliege, einer Dionaea muscipula zu entkommen, scheiterte knapp.
Foto: William Fernando Martinez / AP / dapd

Viele Modellorganismen in der Biologie machen einen eher unscheinbaren Eindruck. Wer nicht in der Schule oder einem einschlägigen Studium mit dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans konfrontiert wird, kommt wohl ganz gut ohne das Bewusstsein über dessen Existenz (und die Schreibweise des Namens) durchs Leben. In der Pflanzenwelt ist es oft die unauffällige Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana), die für Forschungszwecke unter die Lupe genommen wird. Sie blüht zwar in zarten weißen Blütenblättern, gilt in freier Wildbahn aber eher als Unkraut.

Eine beliebtere Zimmerpflanze – und in ihrem Ruf definitiv verwegener – ist die Venusfliegenfalle. Diese fleischfressende Pflanze bietet für Gelegenheitsbotaniker ein wahres Schauspiel, wenn ein Insekt ihre Fangblätter besucht und hinter Gittern in der tödlichen Falle eingesperrt wird. Und rund um die Erforschung dieses Mechanismus wird auch diese Pflanze hin und wieder für biologische Experimente herangezogen, wie zwei kürzlich erschienene Studien zeigen.

Pflanze macht Tempo

Bemerkenswert ist an der morbiden Pflanze unter anderem ihre Schnelligkeit – was in der Pflanzenwelt selten genug ist. Doch die Blätter der Venusfliegenfalle können mit einer Geschwindigkeit von nur 0,1 Sekunden zuschnappen – eine der schnellsten Bewegungen, die unter Pflanzen beobachtet werden.

Hinter einer so raschen Reaktion steckt in den allermeisten Fällen eine nervenartige Verarbeitung von Reizen. Und tatsächlich: Sobald ein Tierchen an ein Sinneshaar gerät, wird im Blatt ein elektrisches Signal (Aktionspotenzial genannt) gebildet und über die beiden Fangblätter weitergeleitet. Geschieht dies zweimal innerhalb von etwa 30 Sekunden, wird die Alarmschwelle überschritten: Die Falle schnappt zu. Das ist praktisch, wenn man nicht bei jeder kleinsten Störung unnötig einschnappen will. In manchen Fällen ist aber nur eine Bewegung, die langsam durchgeführt wird, dafür nötig.

Zählen bis zur Verdauung

Die Pflanze kann aber nicht nur bis zwei, sondern danach sogar bis fünf weiterzählen: Ab dem fünften elektrischen Signal beginnt die Verdauung, wobei zunächst Salzsäure zum Einsatz kommt und später auf Verdauungsenzyme umgestellt wird. Von dem Tier bleiben nur noch schwer verdauliche Bestandteile zurück – etwa Teile des Chitinpanzers, mit dem sich ein gefangenes Insekt vergeblich vor der Gefahr zu schützen versucht.

Der schwedische Versuchsaufbau: Die Reize einer künstlichen Nervenzelle werden durch eine Veränderung von Ionenkonzentrationen und den entstehenden elektrischen Impuls auf eine Venusfliegenfalle übertragen.
Foto: Harikesh et al. 2022, Nature Communications

Schon vor einigen Jahren baute ein finnisches Forschungsteam eine künstliche Venusfliegenfalle, nun setzen schwedische Kolleginnen und Kollegen künstliche und natürliche Elemente in Verbindung: Sie druckten synthetische Nervenzellen und Synapsen, die Signale ähnlich wie biologische Systeme weiterleiten. Auch hier können also elektrische Reize zur Kommunikation genutzt werden, die durch veränderte Ionenströme entstehen, wie das Team im Fachjournal "Nature Communications" darstellt.

Künstliche Aktivierung

Simone Fabiano von der Universität Linköping und seine Forschungsgruppe verbanden daraufhin die künstlichen Neuronen mit einer lebendigen Venusfliegenfalle. Und sie zeigten, dass die Nervenzellen als Reaktion auf einen elektrischen Reiz eine Information an die Pflanze liefern können – mit der Folge, dass sie die Falle schließt.

Das ist zwar frech gegenüber der erwartungsvollen Pflanze, ist aber für die Entwicklung von Gehirn-Maschine-Schnittstellen interessant, meint das Forschungsteam. Für implantierbare Geräte, die mit dem Nervensystem interagieren sollen, ist eine solche Reizweitergabe nämlich äußerst wichtig. Auch das Feld der Soft Robotics könnte von der Verschaltung in der Studie profitieren. Die Geräte, die bisher entwickelt wurden, basieren in ihrer Funktionsweise in der Regel auf Silizium. Daher sind sie fundamental anders als die biologische Signalverarbeitung, schreibt die Forschungsgruppe. Diese erfolgt natürlicherweise und auch bei ihrem Experiment via Natriumionen.

Der Versuch zeigt: Durch induzierte Signale von außen schließt sich die Falle nach dem zweiten aufgebauten Aktionspotenzial innerhalb kurzer Zeit.
NPG Press

Müde Falle

Die zweite Studie beschäftigte sich nicht mit der Aktivierung, sondern mit der Betäubung einer Venusfliegenfalle: Rainer Hedrich von der Universität Würzburg und sein Team schreiben im Fachjournal "Scientific Reports", dass sich die fleischfressende Pflanze ähnlich wie Menschen durch Äther narkotisieren lässt.

Festgestellt wurde die verwandte Reaktion bei Pflanzen übrigens schon 1878: Damals zeigte der französische Mediziner Claude Bernard, dass die Mimose, die normalerweise bei Berührung ihre Blättchen zusammenklappt, ebenfalls mit dem gasförmigen Äther in Narkose versetzt werden kann. Bei der Venusfliegenfalle trifft dies genauso zu: Wird sie mit Äther betäubt, reagiert sie nicht mehr, wenn ein Sinneshaar berührt wird.

Glutamatrezeptor blockiert

Genau genommen wird zwar im Sensor ein chemisches Signal aufgebaut, aber nicht an die Nachbarzellen weitergeleitet, stellten die Forschenden fest. Schuld daran ist ein blockierter Rezeptor, der normalerweise den Botenstoff Glutamat weitergibt, wie sich bei genauerer Analyse herauskristallisierte.

Das ist durchaus interessant, denn obwohl sich die Reizweiterleitung bei Pflanzen und Tieren wahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelte, so funktioniert sie doch ähnlich. Denn beim Menschen ist Glutamat ebenfalls essenziell für die Weiterleitung von Reizen – und das Ausbleiben, wenn jemand betäubt ist.

Parallelen zum Menschen

Das Team stellte sogar fest, dass sich die Venusfliegenfalle wie auch ein Mensch nicht mehr daran "erinnert", was während der Narkose geschah: Eine aufgebaute Spannung während der Betäubung trug nicht dazu bei, die Falle auszulösen.

Erstautor Sönke Scherzer vermutet, dass die Venusfliegenfalle aufgrund des ähnlichen Mechanismus sogar in der Medizin zum Studienobjekt werden könnte: "Mit ihr könnte es möglich sein, den Wirkmechanismus von Arzneimitteln zu untersuchen, ohne Tierversuche durchführen zu müssen", sagt Scherzer. Im Gegenzug bleibt es in einem solchen Versuchsaufbau wohl den Menschen überlassen, die fleischfressende Pflanze regelmäßig zu füttern. (Julia Sica, 22.2.2022)