Wien gilt als beliebter und erfolgreicher Diplomatiestandort – unter anderem als Sitz der Vereinten Nationen (UN) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

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Ein Diplomatiestandort, zwei Welten: Gespräche mit den Wiener Botschaftern Russlands und der Ukraine zeigen, wie breit die Kluft zwischen beiden Staaten ist – nicht nur mit Blick auf deren Interessen, sondern auch hinsichtlich ihrer Interpretation der aktuellen Lage.

Freilich führen beide Seiten zunächst ihr Sicherheitsbedürfnis ins Treffen. Ihre Schlussfolgerungen aber könnten kaum weiter voneinander entfernt sein. "30 Jahre lang wurde viel geredet, auf allen möglichen Ebenen", sagte etwa der russische Botschafter Dmitrij Ljubinskij am Montag im Gespräch mit dem STANDARD. "Aber Russland wurde nicht gehört. Die große Frage ist, ob wir in der Sicherheitsarchitektur ein gesamtes europäisches Haus haben möchten. Es kann nicht unendlich so weitergehen, dass die Nato-Infrastruktur sich auf die russischen Grenzen zubewegt."

Ljubinskijs ukrainischer Amtskollege Wassyl Chymynez wiederum sieht genau in der Nato jene Sicherheitsgarantie, die sein Land angesichts der Bedrohung durch Russland nötig hätte: "Deshalb ist der Beitritt zur Nato als außenpolitisches Ziel in der Verfassung verankert", bekräftige Chymynez ebenfalls am Montag vor Journalisten in Wien. Das transatlantische Verteidigungsbündnis habe Russland niemals bedroht: "Warum ist die Nato für Putin plötzlich eine Bedrohung, wenn er doch mit vielen ihrer Mitglieder erfolgreich zusammenarbeitet?"

Außer Kontrolle?

Russlands Botschafter Ljubinskij aber sieht sein Land auch aus der Ukraine selbst bedroht und verweist dabei auf radikale Kräfte und angebliche paramilitärische Einheiten, die abseits der Regierungspläne agieren könnten: "In den letzten Wochen beobachten wir, dass einige Nato-Staaten die Ukraine mit Munition und Militärgerät beliefern. Und die Frage über die Kontrolle darüber ist absolut offen. Wer kann garantieren, dass solche Waffenlieferungen unter die Kontrolle der Streitkräfte kommen?"

Die Regierung in Kiew hingegen hat seit nunmehr acht Jahren auch Probleme mit ganz anderen Akteuren, die sich ihrer Kontrolle entziehen: mit jenen prorussischen Separatisten nämlich, die im Donbass die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk ausgerufen haben. Letztere drohen nun zum Ausgangspunkt einer noch größeren Auseinandersetzung zu werden.

Wassyl Chymynez bekräftigte am Montag, die Ukraine wolle "diesen Konflikt keinesfalls militärisch, sondern ausschließlich diplomatisch lösen". Am Dienstag, also bereits nach der Anerkennung beider "Volksrepubliken" durch Moskau, erklärte der russische Botschafter Dmitrij Ljubinskij, das Hauptziel sei jetzt, "eine humanitäre Katastrophe abzuwenden und das Blutvergießen zu stoppen".

Die EU und ihre Soft Power

Wie andere Vertreter der Ukraine erhofft sich Chymynez von der EU und von Österreich Unterstützung. Jedes Land müsse sich positionieren: "Entweder man steht auf der Seite von Prinzipien, Völkerrecht, Freiheit und Demokratie, oder auf der Seite der Willkür. Österreich sehe ich eindeutig unter jenen Ländern, die sich zu Prinzipien bekennen und Willkür nicht tolerieren."

Von der EU wünscht sich Chymynez nun konkrete Signale für eine Mitgliedschaft der Ukraine und betont dabei auch die Bedeutung der oft nicht ganz erst genommenen Soft Power der – militärisch weitgehend zahnlosen – Union: "Es geht nicht nur um die Verteidigung mit militärischen Mitteln. Es ist auch in unserem gemeinsamen Interesse, die bereits erprobten Mittel der Soft Power anzuwenden." Auf diese Art will er auch "entsprechende Signale an die Gesellschaften in Russland und in Belarus senden".

Russland wiederum setzt schon seit längerem kaum auf Gespräche mit der EU. In Moskau verhandelt man lieber bilateral mit einzelnen Mitgliedsstaaten – und natürlich mit den USA. Für Botschafter Ljubinskij führen die häufig unterschiedlichen Interessen der EU-Staaten auch dazu, dass manche "anhand eines gemeinsamen Gegners die Einigkeit bekräftigen wollen". Je schwieriger die Lage in der EU sei, "desto aggressiver wird die Rhetorik gegenüber Russland, was den Dialog überhaupt nicht erleichtert". Die EU würde zwar am Verhandlungstisch bleiben wollen, so Ljubinskij. "Es geht nicht ohne die EU. Aber was hat die EU zu sagen? Ich bezweifle, dass es viel ist."

Umstrittener Vergleich

Und Österreich? Hier sieht Ljubinskij den offenen "Wiener Geist" in Gefahr, durch den sich die Hauptstadt als Diplomatiestandort stets ausgezeichnet habe: "Wenn man die jetzige Situation rund um die Ukraine vor laufenden Kameras mit dem Anschluss von 1938 und der damaligen politischen Lage vergleicht, dann ist das für Russland absolut unannehmbar", sagte er in Anspielung auf eine Aussage von Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg.

Dieser hatte am Sonntag während eines Gesprächs zum Ukraine-Konflikt in der "ZiB 2" gesagt: "Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt – wie es ist, wenn man alleingelassen wird." Nach anschließender Kritik sprach Schallenberg von einem Missverständnis. Er habe damit keineswegs die These vertreten, Österreich sei beim Anschluss Opfer der Nationalsozialisten gewesen.

Auch wenn die Standpunkte weit auseinanderklaffen und die Entwicklungen der vergangenen Tage dramatisch erscheinen: "Ich bin Diplomat", sagt der ukrainische Botschafter Wassyl Chymynez. "Solange die Möglichkeit besteht, zu verhandeln, müssen wir verhandeln." (Gerald Schubert, 22.2.2022)