Die bisherige Innen- und Außenpolitik Russlands unter Wladimir Putin kann als Ergebnis einer gezielten Erinnerungspolitik gesehen werden, sagt der Diplomat und Historiker Emil Brix im Gastkommentar.

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Wladimir Putin (re.) inszenierte am Montag die nächste Eskalationsstufe in der Ukraine-Krise – Geschichtsstunde inklusive.
Foto: Reuters / Sputnik / Kreml / Alexey Nikolsky

Warum begleitet Wladimir Putin seine aggressive Politik gegenüber der Ukraine und gegenüber dem "Westen" ständig mit langen amateurhistorischen Reden und Texten?

Für den Historiker ist es selbstverständlich, dass Erinnerungspolitik einen unverzichtbaren Bestandteil jeder Schaffung und Erhaltung kollektiver Identitäten darstellt. Gemeinschaften, und hier insbesondere jene, die wie Nationen und Staaten politische Ansprüche stellen, bedürfen der Mythen, die ihnen Stabilität verleihen. Sie konstruieren und erhalten ihre kollektive Identität immer mit materiellen und immateriellen Erinnerungsorten, die von möglichst vielen Mitgliedern der Gemeinschaft oder zumindest von den herrschenden Eliten als wesentlich gesehen und geteilt werden. Für diese Gemeinschaften hat Erinnerungspolitik sowohl innen- als auch außenpolitische Bedeutung. Als Regel lassen totalitäre Regime neben der offiziellen staatlichen Erinnerungspolitik weniger alternative Interpretationen der eigenen kollektiven Identität zu, als dies in Demokratien der Fall ist.

Die Russische Föderation ist seit der Wahl von Putin zum Präsidenten im Jahr 2000 ein anderer Staat geworden. Schließlich wurde in Russland ein ausschließlich auf die Zukunft gerichtetes kommunistisches Jahrhundert (1917–1991) unter Präsident Boris Jelzin von einem Jahrzehnt liberal-marktwirtschaftlicher Konzentration auf die Gegenwart abgelöst. Erst unter Putin wurde die Frage der nationalen und staatlichen Identität zum Thema einer öffentlichen Erinnerungspolitik, die darauf abzielt, das gegenwärtige Russland mit den großen Narrativen von "Imperium" und "Opfer" in Traditionszusammenhänge zu stellen, die vom Heiligen Wladimir über die Herrschaft der Romanows bis zu Stalin und der Auflösung der Sowjetunion, ja selbst der Annexion der Krim und einer Ablehnung der Eigenständigkeit der Ukraine reichen. Damit dominiert im gegenwärtigen Russland die Legitimierung der Herrschaft durch die Interpretationen der kollektiven Vergangenheit in Form von bewusst eingesetzter Erinnerungspolitik, die langfristige Kontinuitäten in Innen- und Außenpolitik konstruiert.

Machtpolitische Ressource

In instabilen Weltordnungen wird "kollektives Erinnern" nach innen und außen zur machtpolitisch einsetzbaren Ressource politischer Gemeinschaften.

Zum einen sind seit dem Ende der bipolaren Welt staatliche politische Ordnungen weltweit sehr deutlich von Identitätsdiskursen begleitet und teilweise bestimmt. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist die klare ideologische Unterscheidung zwischen kapitalistischen und kommunistischen Regimen von der Opposition zwischen liberalen und autoritären ("illiberalen") Ordnungen abgelöst worden. Die daraus entstehenden meist nationalen Identitätsdiskurse bedürfen der Bezugnahme auf kollektive Erinnerungen, die von politischen Akteuren zur Legitimation genutzt werden können, weil sie nicht ohne zusätzlichen Erklärungsbedarf als Ergebnis unterschiedlicher ideologischer Annahmen dargestellt werden können.

Zum anderen sind die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland – nach dem Zerfall der Sowjetunion und nach der liberalen Transformationsphase unter Jelzin – derart stark durch eine öffentliche politische Instrumentalisierung von "kollektiver Erinnerung" bestimmt, dass die gesamte bisherige Innen- und Außenpolitik Russlands unter Putin als Ergebnis einer gezielten Erinnerungspolitik gesehen werden kann.

Gesetzliche Verbote

Das erwünschte nationale "Geschichtsnarrativ" wird entweder direkt von Putin oder für den historischen Hintergrund der russischen Außenpolitik von Minister Sergej Lawrow und für den Kultur- und Bildungssektor von Präsidentenberater Wladimir Medinskij öffentlich dargelegt. Für seine Durchsetzung dienen auch gesetzliche Verbote, die in erster Linie eine Leugnung der zentralen Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg unter Strafandrohung stellen. Dies ist seit 2021 Teil der russischen Verfassung. Als einzige Einrichtung mit einem abweichenden Geschichtsnarrativ galt die im Vorjahr verbotene NGO Memorial International.

Im Zentrum der staatlichen Erinnerungspolitik steht die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ab Beginn des Angriffskrieges des "Dritten Reiches" auf die Sowjetunion im Juni 1941. Der in Russland verwendete Begriff "Großer Vaterländischer Krieg" (1941–1945) unterstreicht die Bedeutung für die Verteidigung des "Vaterlandes", erinnert an die Millionen militärische und zivile Opfer und betont den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und damit über den "Faschismus". Zentral ist der 9. Mai 1945 als Tag des Kriegsendes, der jedes Jahr mit einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau gefeiert wird. Die erinnerungspolitische Verwendung des Kampfes gegen den "Faschismus" wurde sowohl nach dem Bau der Berliner Mauer ("antifaschistischer Schutzwall") als auch in der heutigen Verurteilung nationalistischer Kräfte in der Ukraine verwendet.

Verständliche Strategie

Die Russische Föderation ist auch nach der Auflösung der auf einer gemeinsamen Ideologie gegründeten Sowjetunion ein multinationaler Staat, in dem unterschiedliche ethnische und religiöse Identitäten politisch und kulturell berücksichtigt werden müssen. Es ist daher gerade wegen der fundamentalen Brüche in der Regierungsform, der geografischen Dimension und der geopolitischen Rolle im 20. Jahrhundert eine verständliche Strategie des derzeitigen Regimes, historische Kontinuitäten zu betonen, um trotz Revolutionen mit einer inzwischen gescheiterten Ideologie und trotz totalitärer Perioden mit Gulags und stalinistischer Gewaltherrschaft Stabilität vermitteln zu können.

"Die gesamte Geschichte Russlands wird zum Instrument, um die gegenwärtige autoritäre Innenpolitik und die aggressive Außenpolitik zu rechtfertigen."

Die derzeit von allen staatlichen und staatsdominierten Institutionen sowie von der politischen Elite verbreitete offizielle Erinnerungspolitik versteht sich als strategisch notwendige Antwort auf die fundamentalen Veränderungen Russlands in den vergangenen hundert Jahren. Die gesamte Geschichte Russlands wird zum Instrument, um die gegenwärtige autoritäre Innenpolitik und die aggressive Außenpolitik zu rechtfertigen.

Im internationalen Vergleich ist Putins Russland weder wirtschaftlich noch gesellschaftspolitisch ein erfolgreicher Staat. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Betonung von Erinnerungspolitik ein Ausdruck davon ist, dass die russische Führung den Glauben daran verloren hat, dies ändern zu können. Damit bleibt Putin zur Erhaltung der Macht nur noch der Rückgriff auf Kontinuität und Stabilität, wie er sie vor wenigen Monaten in die neue "Nationale Sicherheitsstrategie" hineinschreiben ließ. Die "historische Wahrheit" müsse verteidigt und jeglicher Geschichtsfälschung entgegengewirkt werden. Die Ukraine ist das jüngste Opfer dieses Denkens und Handelns. (Emil Brix, 23.2.2022)